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Der alte Mann und der Schuh

Mein erster Schuster war ein alter Mann mit arthritischen Fingern, dessen enge Werkstatt sich im Kellergewölbe des Nachbarhauses befand, als ich in mein erstes kleines, billiges Appartement zog, nachdem ich mein Abitur gemacht und mich bei meiner Mama um ein selbstständiges Leben beworben hatte.
Der Mann war ein Gott – wahrhaftig ein Paganini der Schuhe. Es gab nichts, was er nicht hätte reparieren können. Ihm vertraute ich meine ersten schwarzen Wildlederstiefel mit Barockabsätzen an, die ich mir vom Mund abgespart hatte. Da ich bereits damals schon mehr Geld für die Präsentation meiner Füße als für das Sättigungsgefühl meines Magens ausgegeben hatte, waren meine Waden nicht viel dicker als meine Arme – die neuen Stiefelchen mussten also auf Maß enger gemacht werden. Und dieses Wunder hatte er für den Preis von (damals noch) 15 DM zauberhaft gekonnt vollbracht, ohne zu murren oder mir zu empfehlen, doch nächstes Mal lieber ein Steak als neue Schuhe zu kaufen. Je intensiver unsere Beziehung wurde – viele Pumps, Sandaletten und Stiefel lang, denen unter seinen fähigen Händen ein nahezu ewiges Leben zuteil wurde –, desto öfters war ich in den muffigen, kleinen Keller gegangen, um meine Leidenschaften ohne schlechtes Gewissen auszuleben. Es war beinahe zwanghaft – manchmal schämte ich mich für mein Verhalten, doch niemals für seine Arbeit.
Meine Liebhaber kamen und gingen, doch ihm blieb ich immer treu.
Bis er mich eines Tages ohne Abschied verließ.

Ich weiß noch, dass an diesem Tag die Sonne schien und ich den Sommeranfang mit einem neuen Paar roter Lederpumps feiern wollte – die obwohl mir etwas zu eng, dennoch hatten auf jeden Fall gekauft werden müssen (diese Unvernunft werden vor allem Frauen verstehen und mir wohl ohne Weiteres verzeihen können!). Ich stieg wie immer voller Vorfreude die kalten, steinernen Stufen hinab, doch niemand war da. In der Luft hing noch der Duft frischen Leders und der Wohlgeruch von heißem Kleber, die Nägel lagen noch immer wohlgeordnet in kleinen Hozkästchen am Fenster und die Sohlen und Muster zierten die Wand gegenüber, unerprobten Soldaten gleich, die ihres ersten Einsatzes dort harrten, wo grausame Feinde – tückisches Kopfsteinpflaster, flüssiger Teer und ätzendes Streusalz – auf sie warteten. Doch die Maschine stand still, die Riemen hingen schlaff hinunter und der Meister war fort.
Der Schlag meines Herzens setzte für einen Moment aus.
Wie im Traum hörte ich leise Schritte hinter mir. Von verzehrender Sehnsucht getrieben und von stürmischer Zuneigung beflügelt drehte ich mich um, in Erwartung, das zerfurchte, weise Gesicht des Mannes zu sehen, dem ich schon so lange mein kostbarstes Besitz anvertraut hatte – doch ich stand einem Fremden gegenüber. Der junge, gut gebaute Mann in einem perfekt sitzenden schwarzen Anzug blieb reglos stehen, sah mich an und lächelte. Seine Augen waren grün, seine Zähne makellos und die Hände gepflegt. Er interessierte mich nicht die Bohne. Mein Herz gehörte nur einem Mann.
"Wo ist er?" – fragte ich mit zitternder Stimme.
"Mein Großvater ist leider vor drei Tagen verstorben. Ich bin hier, um die Werkstatt zu schließen." – antwortete er langsam, während sein Lächeln erlosch.
Und als ob es schon nicht schmerzvoll genug für mich gewesen wäre, den einzigen Mann zu verlieren, dem ich jemals bedingungslos hatte vertrauen können, hörte ich ihn im nächsten Augenblick noch grausamere Worte aussprechen:
"Hier werden keine Schuhe mehr repariert. Es tut mir leid."
Mein Herz und meine Welt brachen mit einem Schlag zusammen.
"Nein, mir tut es leid, wirklich. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich Ihren Großvater bewundert habe. Es wird nie mehr jemanden geben, wie ihn. Er war der Beste."
"Danke." – er hielt kurz inne. – "Ich werde morgen wieder hierher kommen. Kann ich noch etwas für Sie tun?"

Am nächsten Tag nahm ich leise Abschied.
Dunkelviolette Veilchen schmiegten sich an die Schwelle der niedrigen Tür, die von diesem Tag an für immer verschlossen blieb. Ich blieb für einen Moment stehen und dachte an den alten Mann, der sein Leben lang die Schuhe anderer Leute repariert hatte; selbst dann noch, als seine knorrigen Finger kaum mehr den abgenutzten Hammer in der Hand halten und seine wasserblauen Augen nicht mehr das Nadelöhr erkennen konnten, um den kräftigen Faden aus Flachs durchzuziehen. Ich ging, das Lebewohl und Danke leise in Gedanken murmelnd. Am nächsten Morgen waren die Blumen verschwunden, um von nun an dort zu blühen, wo immer er auch seine letzte Ruhe gefunden haben mochte.

Seit diesem Tag sind bereits viele Jahre vergangen. Ich bin erwachsen geworden, so wie meine Bedürfnisse immer weiter gewachsen sind. Heute habe ich eine geschickte Schneiderin, die meine Hosen kürzt, Blusen enger näht und Röcke umsäumt; einen gutmütigen Metzger, der für mich am Freitag immer die besten Filetstücke aufhebt; meine türkischen Gemüsemädels, die mir lächelnd immer zwei Orangen schenken, wenn sie meine Einkäufe einpacken; einen charmanten Italiener, der jedes Mal, wenn er nach Hause fährt, daran denkt, mir kiloweise guten Kaffee mitzubringen und einen süßen, schüchternen Taxifahrer, der mich zuverlässig jede Nacht nachhause bringt, wenn ich endlich die letzten betrunkenen Gäste vor die Tür gesetzt habe oder selbst mal der letzte Gast bin.
Seit zwei Jahren habe ich eine lockere Affäre mit einem polnischen Schuhmacher, der ein Toupet trägt und gern über seine undankbaren Kinder redet.
Doch niemals mehr habe ich jemanden gefunden, dessen Herz meinen Schuhen und mein Herz dessen zauberergleichen Händen bedingungsloser hätte gehören können. Er war ein ehrlicher alter Mann, der seine Arbeit liebte, solange er lebte.
Ich denke oft an ihn.
Denn seine erste Liebe vergisst man nie.

In treuer Erinnerung,
Sophia Sommer

2 Kommentare

Eine wunderbare Geschichte, Sophie!
Sie ist sprachlich geschickt und inhaltlich mitreißend erzählt, und sie hat so gar nichts Triviales. Altes, Vertrautes zu verlieren, nein, das hat nichts mit Alter zu tun, diese Erfahrung kann man auch in jungen Jahren machen, wie man an Dir sieht.
Ein Stück Wehmut bleibt nach dieser Geschichte zurück, weil fast alle Menschen Ähnliches erlebt, Unwiederbringliches verloren haben. Danke für dieses sprachgewaltige Erlebnis!

Danke, Roland,


für diese warmherzigen und anerkennenden Worte – es war mir ein Bedürfnis, dieses Gefühl niederzuschreiben, wenn man jahrelang Gewohntes und Liebes verliert, und dass er \"nur\" ein Schuster gewesen ist, hat tatsächlich nichts Triviales an sich. Es war mir auch wichtig, zu zeigen, dass selbst die kleinsten Momente im Leben und Alltag \"Großes\" an sich haben. Und dass jeder Mensch für jemanden wichtig ist – es gibt so viel Anonymität in unsrem Dasein. Zu gern gehen wir spurlos vorüber. Ich hoffe, dass er es als Beweis der Zuneigung aller Menschen, denen er in seinem Leben geholfen hatte, aufgefasst haben könnte. Wen er es hätte denn lesen können…. Und wer weiß, möglicherweise hatte er es sogar…

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