Benimmprüfung auf dem Tisch
Ich gebe zu, wenn ich abends daheim mein schwer verdientes Essen endlich auf dem Teller habe, reicht mir durchaus nur eine Gabel: ich habe Hunger, und dieses Bedürfnis gilt es zu stillen – zum Zinken zählen bin ich dann meistens schon zu müde. Doch dank der Erziehung von meiner Mutter, die es ehrlich gesagt bis heute immer noch nicht lassen kann, mich zu unterweisen – egal worum es geht –, weiß ich wenigstens, mich in einem Restaurant, wenn es darauf ankommt, richtig zu benehmen. Was man leider nicht von allen Menschen behaupten kann, musste ich feststellen. Die Freude, endlich mit einem gutaussehenden, interessanten Mann zum Essen ausgehen zu können, kann schnell getrübt werden, wenn man erkennen muss, dass er zwar weiß, wie viele Zylinder sein Porschemotor hat, jedoch der Anzahl und der Zweckbestimmung des Essgeräts vollkommen orientierungslos gegenüber steht.
Eigentlich könnte man dem Armen nicht mal einen Vorwurf daraus machen, denn die meisten Leibspeisen des modernen Menschen – und darüber habe ich mich schon letzte Woche genüsslich geärgert, aber irgendwie lässt mich das Thema Essen einfach nicht los – kann man im Grunde prima mit den körpereigenen Werkzeugen bearbeiten: nämlich mit den Händen. Fingerfood ist die vielleicht genialste Erfindung unserer Generation – wenn auch nicht ganz neu, denn schon die Neandertaler haben die Mammuts zwar mit selbstgebastelten Speeren erlegt, die gegrillte Keule jedoch immer noch mit den Fingern zerlegt. Und auch am Hoffe der Pompkönige der Renaissance hatte die Gabel lange gebraucht, um salonfähig zu werden. In einer Gesellschaft jedoch, wo man bei einem Geschäftsempfang mehr Hände zu schütteln verpflichtet ist, als Martinis vom Barkeeper in einem James Bond-Film gemixt werden, ist Besteck wahrhaftig ein Segen.
Doch ach, im Gegensatz zum Fahrsicherheitstraining oder der Bedienungsanleitung für die Waschmaschine – für Tischmanieren oder Umgang mit Besteck gibt es keine schriftlichen Anweisungen: hier heißt die Devise "do it yourself". Das Problem ist, was sich manch einer auf diese Art autodidaktisch beibringt oder vielleicht von den Eltern abschaut, ist schlichtweg katastrophal. Und manchmal sogar sehr peinlich. Vor allem wenn dieser jemand ein "Kandidat" ist und man als Frau vor das Dilemma gestellt wird: Nachsicht üben und sitzen bleiben oder das Handtuch respektive die Serviette werfen und abhauen?
Dabei ist es doch so einfach!
Selbst wenn rechts und links vom Teller unbekanntes Gerät aufgereiht ist – die Regel lautet, Konsequenz beweisen und sich von außen nach innen durcharbeiten. Dabei sollte man tunlichst vermeiden, die Gabel wie ein Joystick mit aller Macht und Hand zu umklammern – das Gleiche gilt für das Messer übrigens auch! – und das arme Stück Fleisch auseinander zu säbeln: dies ist kein Baumstamm und wir sind nicht beim kanadischen Holzfäller-Wettbewerb. Auch das fragile Weinglas muss man nicht krampfhaft mit beiden Händen am Bauch festhalten als sei es das heilige UEFA-Pokal: eher wie bei einer empfindlichen Blume, für die stets argwöhnisch blickende Liebste gegenüber, sollte man die Finger am Stiel lassen.
Die Italiener haben mit ihren meterlangen Spaghetti natürlich eine schwierige Hürde für akkuraten Genuss eingebaut, aber auch hier ist alles eine Sache der Übung: wer anfängt, die Schnürsenkel aus Teig mit dem Messer zu zerkleinern, sollte sich lieber gleich Penne bestellen und nicht den Koch beleidigen. Wickeln – und zwar ohne Löffel! – ist hier die einzig richtige Methode. Zugegeben, hier sind wir den Männern gegenüber eindeutig im Vorteil – wir wickeln unser Leben lang irgendwas ein, und wenn es nicht unsere schreienden Sprösslinge oder die Weihnachtsgeschenke sind, dann sind es unsere Haare: wer seit Jahren jede Nacht seine Rapunzelpracht auf Lockenwickler eindreht, wird niemals mit langen Nudeln ernste Schwierigkeiten haben.
Hier könnten Männer von uns wirklich was fürs Leben lernen.
Diese Schwierigkeiten haben natürlich die Chinesen ganz und gar nicht. Statt sich mit unzähligem Silberbesteck zu quälen, haben sie schlicht zwei Bambusstäbchen als Essgerät am Tisch – da spart man sich gleich auch den Abwasch: die Dinger sind reinste Wegwerfartikel. Eine ganze Milliarde Menschen schnipselt seit Jahrtausenden ihr Essen intelligenterweise einfach vor, mischt alles in einer Schüssel zurecht und schaufelt es einfach in den Mund hinein, ohne sich dabei um verklemmte europäische Standards viel Kopfzerbrechen zu machen – ein Paradies für alle, die vom Benimm die Nase voll haben: je lauter man rülpst, schnäuzt und furzt, desto leckerer war das Essen. Doch die absolute Krönung sind die Japaner, denn sie haben ihre Esskultur einfach und geradezu sagenhaft perfektioniert – das Zauberwort heißt Sushi: nur ein Japaner konnte auf die geniale Idee kommen, ein Restaurant zu eröffnen, in dem man nicht kochen muss.
Und auch unsere Mitbewohner aus dem Orient glänzen mit Einfallsreichtum, wenn es um Tischmanieren geht. Wer schon mal beim Perser oder Ägypter auf dem Boden und zwischen all denn bunten Kissen gespeist hatte, weiß um den unschätzbaren Vorteil der Devise "zurück zum Ursprung": mit den Fingern rein in die Schüssel und die Sache ist gegessen. Doch aufpassen! Auch hier lauern ungeahnte Schwierigkeiten, denn ähnlich wie bei der deutschen Straßenverkehrsordnung gilt hier rechts vor links: nur mit Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand – die man logischerweise vorher gewaschen hat! – darf man kleine Bällchen aus den üppigen Speisen formen und zum Mund führen. Die linke Hand gilt als "unsauber", denn mit ihr werden allerlei andere, zwar ebenso natürliche, jedoch kulturell besehen "schmutzige" Dinge verrichtet und dabei handelt es sich nicht nur um Geld zählen, kann ich euch versichern.
Hatte man jedoch das Glück, im 18. Jahrhundert in Abessinien – heutiges Äthiopien – speisen zu können, beschränkte sich für Männer die Tätigkeit lediglich auf Schlucken. Denn traditionell wurde jedem Gast in einem vornehmen Haus eine Dame an die Seite gesetzt, die für den Mann die Aufgabe des Bestecks übernahm: sie formte mundgerechte Bissen zurecht, tunkte sie in die Sauce und fütterte damit ihren "Mann des Abends". Weit gefehlt, wer jetzt denkt, sie sei eine Dirne gewesen: verheiratet, ledig, Jungfrau oder Witwe – für jede Frau war es eine Ehre gewesen, die ganz und gar gesellschaftsfähig sozusagen zum guten Ton gehörte. Und versuchte sich der Mann diesem Mästen zu entziehen, ehe die Dame nach ihrem Ermessen überzeugt war, er habe genug gegessen, grenzte es ernsthaft an eine Beleidigung
Für manch einen Mann von heute wäre dieser Brauch wohl eine echte Erlösung: nichts selbst denken oder tun müssen – nur verdauen! Doch wer sich nach den guten alten Zeiten sehnt, sollte auch bedenken, dass keine Frau der Welt bis zum unsäglichen Anfang der Emanzipation ihr Essen im Restaurant hätte selbst zahlen müssen.
Gute Pflege und königliche Behandlung kosten eben Geld, meine Herren.
Und da sollte man(n) erst recht die Benimmregeln kennen.
Herzlichst,
Sophia Sommer
Gleich ob Mann, ob Frau: Knigge mit allen seinen sittlichen Regeln, Benimm- und Verhaltensregeln, alle den adäquaten zwischenmenschlichen Umgang betreffend, sind zweifellos für die allermeisten eine esoterische Philosophie! Vor kurzem überzeugte ich mich, dass manche Dame noch nichts davon erfahren hat, dass es noch zu Knigges Zeiten üblich war, dass der Galant z u e r s t das Restaurant betritt, als e r s t e r eine Treppen hinauf geht - übrigens unabhängig davon, ob >sie< einen Mini, einen mittellangen, langen oder gar keinen Rock anhat oder eine Jeans. :-) Benimm dich! kann eine Abenteuer sein: denn Regeln - insbesondere Benimm-Regeln - machen nur Sinn, wenn sie allgemein geübt und gekannt werden. Was in einer Kultur als höflich gilt, ist in einer anderen zuweilen ein Affront.