Dritter Auszug aus "Verwehte Zeit"
Auszug aus "Verwehte Zeit":
Hein V. war kein gelernter Kaufmann. Er betrieb den Handel nur, weil er ihn schon „immer“, das heißt, aus einer anderen Zeit heraus betrieben hatte. Sohn Lür sollte das Metier nun von der Pike auf erlernen, um den Laden einmal übernehmen zu können und im väterlichen Sinne weiterzuführen. Lür kam nach dem ‚Einjährigen’ der Handelsschule bei Hermann Ehrling in der F’grodener Weichselstrasse – einem ausgebildeten Kaufmann – in die Lehre. Aus ihm sollte da ein „ächter“ Heringsbändiger gemacht werden.
Heringsbändiger war eine landläufige ökelhafte Bezeichnung für den Beruf des Kaufmannes als Einzelhändler. Die Kaufleute der Damalszeit verkauften ja in der Tat neben Steinkohlenteeröl und Gemischtwaren jeder Art auch Heringe aus dem Fass. Ganz gleich ob grün, ob gesalzen oder sauer, ob geräuchert oder mariniert.
Nun hatten sich die beiden jungen Leute versprochen und es sollte im kleinen Kreise und in würdigem Rahmen die Verlobung, als öffentlicher Verspruch, gefeiert werden. Die engsten Freunde der Familie, die nächsten Nachbarn und die besten Kunden wurden geladen. Das war man sich als „Koopmanns“ schuldig. Für mich als ‘Ladenhilfskraft’ – ich ging ja als Steppke noch zur Schule – bestand der „würdige“ Rahmen darin, zu beobachten, wie der Bräutigamvater und einer seiner Nachbarsfreunde aus der Hunrichstraße sich mühten, Änne H., die Frau meines Patenonkels Johann, mit getürktem Bärenfang – einem ansonsten exquisitem Honiglikör in der Bastflasche aus der Destillerie von Teucke & König – betrunken zu machen. Irgendwie wollten die beiden es der ansonsten lebenslustigen aber reservierten und Annäherungsversuchen nicht zugänglichen Änne es wohl beweisen.
Änne H. war in ihrem Erwerbsleben in Franz Högemanns Bekleidungshäusern als Modistin, als Directrice, tätig gewesen. Diese ‘Burgfeste’ wollten die beiden Mittelalterer nun partout erstürmen, zumal deren Ehemann Johann schon seit geraumer Zeit als Funkoffizier auf einem Frachter der Reederei Rickmers auf Trampfahrt im gelben Meer von einem Chinahafen zum anderen schipperte. Gelungen ist es den Schlawinern offenbar nicht. DAS weiß ich, weil ich das Donnerwetter miterlebt habe, das kurz darauf auf den kleinlauten Hein herniederprasselte, als seine Bremer Meta Wind von dem Spiel bekam und die Notbremse zog, bevor ihr Heinrich sich in irgendwelchen verlockenden Tiefen fremder Weiblichkeit verlor.
Auf jeden Fall blieb die Dame eine Dame und der Haussegen im Melkladen der hing nach einigen Tagen wieder einigermaßen gerade.
Ich schreibe bewusst ‚einigermaßen’, denn völlig lotrecht hing dieses unsichtbare Gespinst im V'schen Hause eigentlich nie. Dafür war Hein Melk viel zu sehr Genussmensch und seine Meta zu sehr Realistin.
Schwester Mathilde und Bräutigam Lür zogen nach dem öffentlichen Verspruch für eine Weile ins Bergische. Schwester Mathilde war zuvor schon in Solingen in Arbeit gewesen. Dadurch, dass Bruder Hinrich seit Anfang 50 in der Klingenstadt Fuß gefasst hatte, zog es die anderen Familienmitglieder (auch die ohne Glied) seltsamerweise auch von Anbeginn und noch Jahre später, des Gelderwerbs wegen in die gleiche Richtung von Schlicktau fort.
Wilhelmshaven war – und das besonders in den Jahren direkt nach Kriegsende – von der allgemeinen Arbeitslosigkeit sehr hart betroffen.
Bruder Hinrich hatte in 48 bei Fritz Adena am Heppenser Berg seine Gesellenprüfung als Möbeltischler mit eins/eins und Auszeichnung als Landesbester bestanden – es blieb ihm wegen des marodierenden Arbeitmarktes aber nur eine norddeutschweite Betätigung als Steineklopfer. Er zog eine zeitlang mit Kusine Hannis Mann Ludwig aus Neuengroden auf dessen Lambretta als Sozius von Flensburg bis Braunschweig und von Hamburg bis Bentheim entlang der norddeutschen Trümmerstätten, um überall mitzuhelfen die Hinterlassenschaften des Vernichtungskrieges zu beseitigen. Nach kurzer Zeit „stank“ ihm das ‘Steinekloppen’ aber gewaltig, und nachdem Mutter ihren Plan, irgendwo im Raum Wilhelmshaven eine Obst- und Hühnerplantage einzurichten, mit der Übernahme der Fortanlagen in Middelsfähr begonnen hatte umzusetzen, war Bruder Hinrich im Bewusstsein seines Versprechens, diesen Plan mit der Mutter gemeinsam zu realisieren, vor den auf ihn zukommenden Pflichten davongelaufen. Einer leichteren und besseren oder wohl eher einer von Familie unbelasteten Zukunft entgegen. Das mit Familie ist in der Tat im doppelten Sinne zu verstehen. Zum einen war es seine Vater / Mutter / Geschwisterfamilie und zum anderen wäre es seine eigene Vater / Mutter / Kinderfamilie geworden, denn kaum, dass er den Wilhelmshavener Klei von den Füßen geschüttelt haben konnte, da meldete sich eine junge Kriegerwitwe mit schon zwei reizvollen Töchtern aus der mittelbaren Nach-barschaft und teilte meiner Mutter mit, dass der entfleuchte Sohn sie, die junge Witwe, geschwängert habe. Die „Sache“ wurde wahrscheinlich in der damals zwar ungesetzlichen, aber nicht unüblichen Weise mit Hilfe einer Engelmacherin „bereinigt“. DAS war nun wiederum eine Seite meiner Mutters Wesen, die ich Jahre später auch noch kennenzulernen gezwungen war.
Obwohl ich sicher bin, dass er, auch wenn er in der „Armutszone“ Schlicktau geblieben wäre – ganz schnell den Mief der Armut abgeschüttelt hätte. Mein Opa sagte einmal zu einem Nachbarn, „de Jung verköfft eenes Doachs noch sien eegen Moder – un de kummt dor denn nichmoal dorachter.“ (Der Junge verkauft eines Tages seine eigene Mutter – und die bemerkt es dann nicht einmal.) Der Ausspruch dieser Erkenntnis war natürlich nicht für meine Ohren bestimmt gewesen. Denn wenn mein Opa auch nur geahnt hätte, dass in der Futterkiste hinter ihm ein kleiner Stöpsel mit großen Ohren hockt – er hätte es in diesem Moment dem Nachbarn nicht, oder doch nicht in dieser Weise kundgetan.
Wie recht er doch mit seiner Einschätzung behal-ten sollte. Mein Bruder bewies es seinen nächsten Angehörigen, und nicht nur denen, einfach immer wieder aufs Neue.
Obwohl er aus eigenem Entschluß ein Teil der Zukunftsplanung „Obstgarten Middelsfähr“ gewor-den war, verließ er im entscheidenden Moment das Schiff „gemeinsame Familienzukunft“. Er ging von der Fahne, zu der er doch eigentlich dazugehörte – er wurde schlicht fahnenflüchtig und ließ verbrannte Erde zurück. Er tat, und nahm sich einfach alles, was er wollte. Mit dem Holzkoffer, in dem die Mutter seine Habseligkeiten verstaute und mit der Tbc Beihilfezahlung von der die Familie den anstehenden Monat leben sollte, machte er sich auf den Weg gen Süden. Er war weg – die Not blieb zurück. Davon später mehr, zuerst bekommt Hein Vieth jetzt wieder Raum in meiner Erinnerung – in meiner Erinnerung an durchaus auch schöne Momente auf meinem Weg durch die Wüstenei Leben.
Mathilde und Lür waren ja nun weit vom Schuß – als Brautpaar in der Messerstadt – die Vorortverbindung zwischen den Familien Eden und Vieth, die blieb bestehen. Heinrich Vieth besaß im Grunde die gleichen positiven Wesenszüge wie meine Mutter. Darum kam ich, so glaube ich es, auch so gut mit ihm zu Rande. Zwischen seiner Frau Meta und mir blieb es all die Jahre hindurch nur ein distanziertes Kühlverhältnis – uns verband schlichtweg gar nichts miteinander. Wir verhielten uns wohl beide abwartend reserviert – einer den anderen stets misstrauisch beäugend, ob nicht doch irgendwo bei dem anderen eine Schwachstelle zu entdecken sei.
Was geschehen wäre, wenn denn die „Schwach-stelle“ bei mir entdeckt worden wäre, derentwegen ich mich in jenen Tagen immer wieder vor Scham weit weg gewünscht habe, das vermag ich mir auch heute noch nicht auszumalen. Ich pinkelte im Alter von 5-6 Jahren plötzlich wieder in die Hose – aber stets nur in Situationen, in denen ich einen Erwachsenen um die Erlaubnis bitten musste, pinkeln gehen zu dürfen. Dieses Trauma hat mich über Jahre begleitet, und obwohl meine Mutter davon gewusst haben muß, ist es nie auch nur mit einem Wort bei uns zuhause ein Thema gewesen. Sie scheute wohl davor zurück, weil sie um den Auslöser für mein Hosenpinkeln wusste, und sicher auch, weil sie mich vor den Hänseleien der anderen Kinder bewahren wollte. Es war schon eine schlimme Zeit für mich – ausgelöst durch das sadistische Verhalten meines ältesten Bruders. Ganz besonders ist mir eine längere Fahrrad(tor)tour in die Erinnerung ge-brannt. Fahrradtour hieß nun nicht, dass jeder von uns ein eigenes Fahrrad fuhr – Fahrradtour hieß für mich stets mit meinem kleinen Jungenpopo auf der Stange eines Herrenrades bei einem meiner Brüder zu sitzen. Wer da auf der Stange vor dem Pedalritter hockte, der war dem Wohlwollen desjenigen, der auf dem Sattel saß, völlig ausgeliefert. Besagte Radtour führte uns von Voslapp ausgehend bis tief hinein ins Jeverland zur Mutter unseres Vaters. Die Fahrt zu unserer Großmutter war für meinen großen Bruder für sich alleine schon Anlaß zum ungehalten sein, weil auch diese Großmutter eine Zwillings-schwester des Luzifer war. Anders vermag ich es nicht zu benennen. Zu allem Übel sah er sich auch noch von unserer Mutter genötigt, seinen kleinen Bruder als Ballast mitzuschleppen. Unsere Mutter hatte ihren Ältesten zu dieser Fahrt verpflichtet, weil es kurzfristig eine familienwichtige Nachricht zu übermitteln galt, und auch wohl in der Hoffnung die Großmutter mit dem Anblick des Jüngsten Enkel milder zu stimmen.
Es war eine trügerische Hoffnung, meine Mutter wusste es – aber sie gab die Hoffnung niemals auf.
Jetzt wird sicher manch Leser denken, warum hat man denn nicht einfach bei der Großmutter angerufen, anstatt da jemanden 80 Kilometer mit dem Drahtesel durch die Geographie zu scheuchen. Lieber Frager, es waren noch nicht 5 Jahre nach des Krieges Ende vergangen, und Telefone - oder Fernsprecher wie es damals noch geheißen hat – im Hause zu haben war für private Menschen im Lande noch eine Utopie.
Ich hockte also zweimal 40 Kilometer weit auf dem blanken Metall zwischen Lenkstange und Sattel. Es gab keinen Halt unterwegs. Weder um den Popo zu besänftigen, der ganz schön am feuern war, noch um die Blase zu entleeren, deren Völle heftig drückte. Jungs müssen dass solange aushalten können, tönte es nur barsch aus dem Großenbrudermund. Und ‘Junge’ wagte nicht einmal mehr zu sagen, dass er pinkeln müsse – und ‘Junge’ hielt es aus, bis daß es unerträglich wurde und letztendlich in die Hose ging. Und selbst da sagte ‘Junge’ nichts, weil er sich schämte und hoffte, es würde niemand von um ihn herum etwas davon bemerken.
Mein erstes „eigenes“ Fahrrad – ein uraltes „Gritzner“ Rad, bekam ich erst mit 15 Jahren – es war eine klapprige und rostige Gurke, die mein Schwager und davor schon zwei Generationen von Vätern ihr Eigen genannt hatten. Gleichaltrige um mich herum fuhren mit 16 schon mit ihrem eigenen Moped durch die Gegend. Ein solches Erleben „erfahren“ zu dürfen war mir nicht gegeben. Ich habe von so klangvollen Namen wie Zündapp oder Victoria, wie Wanderer oder Rixe und Kreidler-Florett immer nur von Kameraden gehört, und von einem Besitz eines solch ‘flotten Flitzers’ immer nur träumen können. Armut, finanzielle Einschränkung war bei uns zuhause über die Zeit hinweg dominierend.
Zu der Zeit waren meine Geschwister schon alle von zu Hause ausgeflogen. Ich teilte mit meiner Mutter die Leere des Hauses – vielleicht auch die Leere ihres Herzen. Zumindest solange, bis Dirk L. aus Nenndorf, nach einer Ewigkeit der vergangenen Jugend und einem folgenreichen Zwischenspiel zehn Jahre zuvor, erneut in ihrem Leben einen Raum für sich besetzte. Es war offenbar eine Besetzung, die meiner Mutter sichtlich und in bestimmten Situationen auch hörbar gut tat.
Ich konnte, obwohl ich ja noch ein kleiner Bengel war, doch schon sehr gut den Unterschied in ihrem Verhalten erkennen – den Unterschied zwischen ihrer stillen Starre, wenn der Vater sie „bestiegen“ , ja sie regelrecht „gepfählt“ hatte, so wie ich es als angstgepeinigter Bubi aus meinem unerkannten Versteck heraus immer wieder mit ansehen musste – und dem lust- und lautvollem sich hingeben, wenn sie Dirk L’s strotzende Männlichkeit bereitwillig in sich eindringen ließ, oftmals dabei sogar die dominierende war, indem sie auf ihm hockte, als wenn sie in ihrem Ungestüm ein Prachtpferd reiten würde. Ihre Brüste schwangen dann wie Glocken über des unter ihr liegenden Mannes muskulöser Brust hin und her.
Meine Mutter schien eine völlig andere geworden zu sein. Ich habe erst sehr viel später begriffen, dass sie nur aus einer lange währenden Starre erlöst worden war. Mit ihrem Verhältnis zu Dirk L. hatte es nämlich seine eigene, seine besondere Bewandtnis. Erklärend berichten werde ich davon an anderer Stelle.
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Für die Anzahl der lesenden Augen, die den vorhergegangenen 2ten Auszug von "Verwehte Zeit" verinnerlicht haben, ist dies von mir an meine myHeimatfreunde als ein "Danke" gedacht ...