Geschichte zum Nachdenken, auch für eure Partnerschaft
Das gläserne Band
Es war in Germanien in grauer Vorzeit. Hamar, der alte, greise Zauberer saß in seinem verschlissenen Lehnstuhl.
Die Zeit war gekommen, seine Zeit, um über sein Leben nachzudenken.
Seine trüben Augen fielen auf die Glaskugel, er befahl ihr, ihm sein Leben noch einmal zu zeigen. Wirre Bilder aus seinem Leben rasten an ihm vorbei, seine Kindheit als Zauberkind, seine Zaubererlehrjahre, seine Leben als Zauberer. Viel Unsinn hatte er in der Zeit getrieben. Vieles hatte er falsch gemacht. Menschen, denen er wichtig war, die ihn liebten, hatte er enttäuscht.
Die Glaskugel zeigte ihm: Er hatte sein Leben verpfuscht.
Mit dem Alter hatte er seine Kraft fast verloren. Doch eine letzte Kraft verliert ein Zauberer nie.
Die Kraft seinen Herzschlag anzuhalten. Nach einem langen, unnützen Leben beschloss er, diesen letzten Zauber anzuwenden. Noch einmal nahm er das dicke zerflederte Zauberbuch zur Hand, suchte den Spruch. Auf der letzten Seite fand er ihn schließlich.
Mit leiser, gebrochener Stimme vollzog er den Zauberspruch:
“Erhört mich ihr gütigen Götter!
Ich, Hamar der Magier ruft euch.
Erhört mich Ihr Götter!
Ich befehle der Macht der Erde. Ich befehle der Macht des Feuers. Ich befehle der Macht des Wassers. Ich befehle der Macht der Winde. Ich befehle der Macht des Mondes. Ich befehle der Macht der Sonne. Ich befehle der Macht des Himmels.
Erhört mich ihr gütigen Götter!
Kommt hernieder und erhebt mich. Kommt hernieder und erkennt mich. Kommt hernieder und entwappnet mich. Kommt hernieder und befriedet mich.
Erhört mich ihr Götter. Seht, mein Licht ist unter euch. Seht, mein Licht ist bei euch. Seht, mein Licht unter euch. Löscht mein Lebenslicht.
Erhört mich!
Erhört mich ihr Götter!
Ich befehle meine Leib zu euch. Haltet meinen Herzschlag an. Nehmt mich zu euch auf. Auf das es so sei.”
Kaum dass er den Spruch getan, fiel ihm das Zauberbuch vom Schoß und verwandelte sich in Staub. Seine Glaskugel zerbarst in tausend Scherben und sein Herz stand still.
Hamar war gestorben.
Wotan mit seinen beiden Raben Hugin und Munin, hatte jedoch anderes mit Hamar vor. Bündelweise schleuderte Donar seine Blitze vom Himmel, sein Grollen ließ das Erdenrund von Horizont zu Horizont erschauern. Hamars Wunsch war immer, dass man seinen Leib in der alten, verlassenen Drachenhöhle am Fuße des Burgberges zur ewigen Ruhe bette. Wenige Menschen begleiteten ihn auf diesem Weg, sein Wille war ihnen Gesetz. Als ob der Himmel weine, prasselten dicke Regentropfen auf die kleine Gemeinde, die sich durch das Unterholz zur Höhle quälte. Tief im Inneren der Höhle betteten sie ihn auf Tann und verließen wortlos, ohne sich umzusehen, die Höhle. Kein Wort über sein Leben, keine Trauerfeier, keine Träne, keine Lobeshymnen wollte er hören, so hatte er zu Lebzeiten befohlen.
Eisige Nächte, durchregnete Tage folgten, doch am siebten Tag beschlossen die allgütigen Götter es sei genug der Trauer. Mit wärmenden Sonnenstahlen weckten sie die Menschen am Morgen. Zur siebten Stunde schwoll am Firmament ein Geräusch an, zuerst war nur ein kleiner Schatten zu sehen, doch bald erkannten die furchtsamen Menschen, dass es Draka war, die Drachin, Bewohnerin der Höhle. Goldene Schuppen fielen von ihren Schwingen, verwandelten sich in Goldstücke für gute, gerechte Menschen, doch schlechte Menschen fanden nur heißes Pech vor, wenn sie die Schuppen anfassten. Sieben mal umkreiste sie den Burgberg bevor sie am Eingang ihrer Höhle dann niederging. Auf Befehl von Wotan brannte sie mit ihrem Feueratem eine Schneiße in das Unterholz, so dass die warmen Sonnenstrahlen ihren Weg tief in die Höhle finden konnten und den bleichen Leib Hamars erreichten.
Draka bedeckte den leblosen Körper mit ihren Schwingen. Ein Knistern war zu hören, Lichtblitze zuckten. Als sie ihre Flügel erhob, schlug Hamar die Augen auf, erhob sich von dem Lager und dankte den Göttern. Er spürte die Kraft und Wärme wieder in seinem Körper.
Wotan jedoch erwiderte: "
Hamar, ich hab dir dein Leben zurückgegeben, deine Zauberkraft jedoch hast du verwirkt durch den Wunsch an die Götter dein Lebenslicht auszulöschen. So höre nun meinen Entschluss: Draka hat um dein Leben gebeten, so sei es. Als menschliches Paar könnt ihr nicht leben, doch merke, aus den Scherben deiner Glaskugel haben die Elfen ein gläsernes Band gesponnen. Dieses Band könnt nur ihr beide und die Menschen sehen, die euch euer Glück von Herzen gönnen. Doch beachtet stets, dieses Band ist aus Glas, wenn einer von euch es zerreißt, wird es niemals mehr verbunden werden können. So liegt es an euch, wie lange euer Glück andauert."
Drakas und Hamars Glück währt noch bis zum heutigen Tage. Kein Neid, keine Missgunst, nichts konnte bisher ihr Liebesband zerstören.
© MK 1/2004