Ein Brunnen der Expo 1900 sprudelt am Markt
Mittelalterliche Romantik pur? Ganz im Gegenteil: Wer damals seinen Job machte, galt landläufig als Dussel ohne Dusel. Mit so einem Broterwerb war einfach kein Staat zu machen: Der Nachtwächter musste mit einem Hungerlohn auskommen und blieb ohne Ansehen und Anerkennung. Gerhard Mestwerdt, seit genau zehn Jahren als Ratsnachtwächter in Springes Diensten, kann davon aber kein Lied singen: Reichtümer sind dem Ruheständler mit diesem Ehrenamt auch heute nicht vergönnt. Über mangelnde Wertschätzung muss er sich aber nicht beklagen. In seiner Rolle als Ratsnachtwächter Heinrich ist Mestwerdt einer der sympathischsten Botschafter der früheren Kreisstadt am Deister.
Was für ein Makel haftete dieser Branche an? Warum galt so ein Mann in jenen Jahrhunderten als unehrenhaft, als das kleine und große Geschäft menschlicher Notdurft noch mehr oder weniger in der Gosse landete. Als der Springer buchstäblich noch auf den Topf ging. Bader, Schäfer, Köhler, Totengräber oder Scharfrichter und Schauspieler hatten in jenen Zeiten ebenfalls keine Chance. Ihre Dienstleistungen und ihr Gewerbe waren ebenso verrufen, weil sie mit den Schattenseiten des Lebens oder wechselnden Aufenthaltsorten zu tun hatten. Daher blieb ihnen nur der äußerste Rand der feudalen Ständegesellschaft. Ansehen hingegen genossen nur Berufe von Handwerkern oder Kaufleuten, die in Zünften und Gilden anerkannt und organisiert waren. So besaßen Schuster, Schneider, Schlachter und Schmiede Zunftwappen, auch Zimmerer, Dachdecker, Bäcker, Krämer und Händler.
Türmer und Nachtwächter jedoch nicht, obwohl sie innerhalb einer mit Mauern und Türmen befestigten Stadt durchaus ehrenwerte Aufgaben erfüllten. »In historischer Zeit führten Nachtwächter einen wichtigen Polizeidienst aus.« Darauf verweist der Verein der Deutschen Gilde heutiger Nachtwächter, Türmer und Figuren auf seiner Webseite. »Ihr nächtlicher Kontrollgang durch Straßen und Gassen mit dem Ansagen der Stunden sollte für Ruhe und Ordnung innerhalb der Stadtmauern sorgen und die schlafenden Bürger vor Feuern, Feinden und Dieben schützen. Sie besaßen das Recht, verdächtige Personen anzuhalten, zu befragen oder zu verhaften." Dass ihr Dienst nicht ungefährlich war, zeigt ihre Bewaffnung. Neben Laterne und Signalhorn führten sie eine Hellebarde mit sich. Die Hieb- und Stoßwaffe mit axtförmiger Klinge und scharfer Spitze am langen Stiel wurde auch Nachtwächterspieß genannt.
So Furcht einflößend seine Waffe auch wirken mag, sein Auftreten ist alles andere als streitbar. So humorvoll und kundig, gespickt mit Anekdoten, historischen Bezügen und Erläuterungen zur Herkunft und Bedeutung landläufiger Redensarten, hat die Donnerstagsrunde selten einen Rundgang durch eine Altstadt erlebt. So kurzweilig wie die Zeit mit ihm verstrich hat der amtierende Weltmeister schon lange kein Fußballspiel samt Verlängerung und Elfmeterschießen mehr abgeliefert. Ein Jahrzehnt pflegt der Laatzener das Gastspiel auf Springer Boden jetzt schon und dies mit so viel Inbrunst und Herzblut, dass Bürgermeister und Gilde ihn am Sonnabend zum Zehnjährigen in einer Feierstunde im Alten Springer Rathaus hochleben ließ.
Zwei Tage zuvor hatte Mestwerdt der Donnerstagsrunde aus dem Nähkästchen eines Nachtwächters geplaudert und dabei viel Lehrreiches wie Unterhaltsames preisgegeben. Warum beispielsweise verfügen die Häuser am Marktplatz, die fast auf Tuchfühlung gebaut sind, über Fenster an den gemeinsamen Gatzen? Wohin sich kaum ein Sonnenstrahl verirrt. Nun: In den Zeiten vor jeglicher Kanalisation dienten die Öffnungen als Ausguss von Nachttopf und Co in die schmale Gosse. Das war fast eine humane Form der Entleerung. Schütteten doch die Bewohner in größeren Städten und dichter besiedelten Straßenzügen ihre einschlägigen Behältnisse nach Einbruch der Dunkelheit aus den oben gelegenen Fenstern nicht selten auf die unten entlang hetzenden Passanten aus. Wie viel Dreck sich auf den Straßen anhäufte, dafür fehlt uns heute einfach die Vorstellungskraft. Damit die Bürger auf den Wegen und in den Gassen nicht in der stinkenden Brühe waten mussten, waren in einigen Städte Gang- oder Gehsteige aus Holz angelegt worden, die abends dann hochgeklappt wurden. So erläuterte der Ratsnachtwächter recht plausibel die Redensart von den nachts hochgeklappten Bürgersteigen. Mit diesem Bann strafen unternehmenslustige Zeitgenossen Innenstädte ab, in denen abends absolut nichts mehr los ist.
Mehr Licht als Schatten hatte Springe aber auch früher schon: Dank der Großzügigkeit des damaligen Sanitätsrates Dr. Heinrich Seebohm ziert ein Schaustück der Pariser Weltausstellung von 1900 heute noch den Marktplatz: der mit Jugendstilmotiven verzierte Marienbrunnen. Obendrauf trägt das Andenken aus Paris quasi noch einen heimischen Eingangsstempel: Die Holzleserin mit der Reisigkiepe auf dem Rücken. Früher durfte jedermann so viel Holz im Stadtwald aufsammeln, wie er in der Kiepe wegtragen konnte. An das alte kommunale Gewohnheitsrecht erinnert diese Figur. Auf ihr Schmuckstück der Expo 1900 waren die Springer schon immer mächtig stolz: Im Internet sind Ansichtskarten des Marienbrunnens bereits aus dem Jahr 1905 zu finden.
Wer den Ratsnachtwächter selbst erleben möchte, kann sich auf dieser Webseite des Stadtmarketings Springe schlaumachen. Dass Springe eine Stadt des Lichts ist, erleben die Besucher bei ihrem Stadtspaziergang, sobald die Dämmerung weit genug fortgeschritten ist. Da erst entfaltet die Kleinstadt am Deister einen wahrhaft illuminierten Charme.
Ach, Karin, dafür ist die Länge mein Feind. Halbe Romane will doch auf dem Portal niemand wirklich lesen. Dafür bleibt in unserer schnelllebigen Zeit im Takt des iPhones weder Luft noch Ruhe.