Bon Camino – der Weg ist das Ziel
Günther war zurück. Er war anders. Zwölf Kilogramm leichter. Das schlohweiße Kopfhaar betonte die sonnengebräunte Haut seines Gesichts. Aber was war anders an ihm? Natürlich: Ein schlohweißer Vollbart zierte nun sein gewöhnlich glattrasiertes markantes Kinn. Wo warst du, fragte ich ihn. Ich habe den Camino gemacht, sagte er. Camino? Günther sah mich ratlos, ohne Erinnerung. Und half mir. Hape Kerkeling, sagt dir das was? Natürlich, der Entertainer. Aber was hat der mit Camino am Hut? Den ist er gelaufen. Hat ein Buch darüber geschrieben. Bestseller. Noch nie davon gehört?
Nun erinnerte ich mich. An diesen Pilgerweg von den Pyrenäen nach Santiago de Compostela. Ich kannte ihn nur als den Jacobsweg. Rund achthundert Kilometer lang. Über Stock und Stein und murmelnde Bäche, romantische Brücken. Alleine, zu zweit oder in Gruppen. Zwanzig bis fünfundzwanzig Kilometer am Tag. Den Hausstand auf dem Rücken, oft mit "Mikrowelle und Waschmaschine", wie es scheint. Nur als Schlafstatt haben sie meist eine Pritsche in einem Refugio als Massenquartier im Auge. Das hat Günther gemacht. Ohne mich zu fragen. Sechseinhalb Wochen war er unterwegs. Mit einem Freund. Aber nicht mit mir. Neid kam auf.
So googelte ich den Jacobsweg. Mehr als dreißig Seiten Jacobsweg. Reisebeschreibungen. Ratschläge. Angebote. Diese lasen sich wie Torturen pur. Wollte ich etwa die achthundert Kilometer laufen? Sechseinhalb Wochen auf Schusters Rappen? Den Hausstand auf dem Rücken? Mit zehn, zwanzig, dreißig oder mehr Typen in einem Raum schlafen oder schnarchen, von anderen Geräuschen einmal abgesehen? Nein, heulte mein innerer Schweinehund auf. Aber Camino, Jacobsweg?
Ich fand mir gefällige Angebote in der Googleabteilung. Geführte Radtouren, begrenzte Kilometer, zehn Tage. Übernachtungen in guten Hotels am Wegesrand. Begleitfahrzeug. Beste MTB’s – Mountainbikes – mit Scheibenbremsen, Teleskopfederungen, stark profilierte Reifen. Alu, versteht sich von selbst. Fünf Angebote druckte ich mir aus. Eines davon einsame Spitze. „Baetica“ – mit allen Sinnen unterwegs. Auch ein Name stand dahinter: Christine. Eine patente Frau, professionell, mit dem Herzen dabei. So mein erster Eindruck am Telefon. Ich buchte.
Ankunft Leon, gut dreihundert Kilometer vom Zielort entfernt. Treffpunkt in Carrizo de la Ribera. Das Hotel in einem Zisterzienserkloster. Das Santa Maria del Rey. Der Ort selbst wenig einladend. In die Klosterkirche müsst ihr gehen, sagte Christine uns. Um einundzwanzig Uhr. Dann halten die Nonnen Andacht, singen gregorianische Lieder.
In der Kirche sitzen wir dem Altar zugewandt. Im Rücken das Chorgestühl. Die Nonnen hinter uns. Eine Vorbeterin leitet die Andacht. Ihre leise Stimme kommt aus einem fernen Lautsprecher. Dann – Orgelklang, spanische Trompeten, Stimmen setzen ein. Leise, dann anschwellend, eindringlich, eingehend, einfach nur schön. Ich bin angerührt. Auch meine Mitreisenden. Verstohlen werden Augenwinkel gewischt. Ich bin angekommen. Bin ich nun ein Pilger?
Mountainbikes werden entladen. Jeder bekommt eines zugeteilt. Reifen werden aufgepumpt. Luftfederungen eingestellt. Körpergewicht und Größe bestimmen die Einstellungen. Dein Sattel muss höher. So hoch, dass die Hacken bei ausgestreckten Beinen gut auf den Pedalen ruhen. Jetzt merke ich, dass einige Biker in der Gruppe einschlägige Erfahrungen haben. Das ist gut so. Denn als Flachlandtiroler wäre ich ohne die Unterstützung mehr als einmal über den Lenker gegangen. So aber nicht. Da war zum Beispiel Herbert. Ein Siebzigjähriger aus dem Allgäu, der uns allen davon fuhr. Da war Paul, ein Mittsechziger Schweizer, der auf einem Fahrrad geboren worden sein muss. Peter und Ulla aus dem Schwäbischen strampelten ohne Murren, ohne Knurren, Kilometer um Kilometer. Caroline und Uli waren die Jüngsten, gingen aber sehr rücksichtsvoll mit mir um. Ihnen ist auch zu danken, dass ich ins Ziel radeln konnte. Danke, ihr Mutmacher.
Jeder der fünf Tage Tournee führte uns durch abseits gelegene Orte. Vorbei an niedrigen Häusern aus grauem Naturstein gebaut. Oft mit eingefallenen Dächern, Getreidespeicher auf Stelzen. Überall der Odem von Silage und Mist. Rosen in allen Farbschattierungen warfen dekorative Farbkleckse auf das triste Grau der Mauerwerke. Kaum junge Menschen sieht man auf den Höfen. Stattdessen halten knotige Hände steinalte Stöcke mit denen Rindvieh zur nächsten Weide gelenkt wird. In schattigen Hohlwegen grüne Fladen der Hinterlassenschaft der Rinder. Als Radfahrer sieht man sie nicht, fährt hindurch, Kot spritzt und bleibt an den Waden kleben. Was solls, die duftende Dekoration der Schienbeine gehört zum Jacobsweg dazu wie der Pilgergruß "Bon Camino".
Atemberaubend die Postkartenpanoramas, Steinwälle grenzen Wiesen und Felder ein. Typisch keltisch. Wälder und Hügelkuppen quere ich, über mir Schäfchenwolken, ich bin eins mit mir, meinem Bike und meinen Gedanken. Was will ich mehr?
Immer wieder schweiften meine Gedanken ab zu Günther. Trotz meiner schmerzenden Oberschenkel. War ich etwa ein Verräter seiner Idee, zu Fuß zu pilgern? Noch vor meiner Abreise sagte er mir, dass er es gut fände, dass ich den Camino machen wolle. Und so tröstete ich mich mit den unterschiedlichen Erfahrungswelten, die Günther durchlaufen war und ich zu durchlaufen gedachte. Runde siebzig Kilometer am Tag, sechs bis acht Stunden im Sattel. Allein mit den Gedanken. Pilger vor und hinter mir, mit geschultertem Hausrat. „Bon Camino“ riefen wir uns gegenseitig beim Überholen zu. Manchmal kam die Antwort gequält zwischen den Zähnen hervor, während die Füße in den schweren Schuhen offensichtlich nicht mehr vorwärtsgehen wollten. Zu schwer schienen Last, Beine und Bürde gewesen zu sein.
Auch ich musste laufen, wenn einige der zu bezwingenden Steigungen zu steil waren. Dann musste das Rad geschoben werden. Doch die Schiebpausen waren auch Strecken geistiger Erholung. Man war in der Natur und mit der Natur. Man konnte den Stimmen der Vögel lauschen und oft klapperten von einem Kirchturm Störche mit ihren Schnäbeln. Womit hatte ich das verdient? Der Weg war und ist das Ziel, sagte ich mir. Wenn abends eine Etappe geschafft war, durfte man sich getrost selbst auf die Schulter schlagen. Natürlich nur, wenn keiner zusah. Bescheidenheit und Demut ist Pilgerdasein.
Als wir schließlich den Monto Gozo erreichten, war das Finale nahe. Santiago de Compostela. Die Kathedrale, der Star als Schlusslicht unserer Reise. Frontal uns diametral gegenüber. Wir klein und müde, ausgepowert, gleichwohl glücklich, angekommen zu sein. An dem Ort, von dem ich bis dato nichts wusste. Zu dem aber schon hunderte von Jahren Menschen angezogen wurden aus der Tiefe ihres Glaubens. Die nach der Kirche weiterzogen zum Kap Finistere, dem westlichsten Zipfel der Iberischen Halbinsel, um dort, am Atlantik, ihre Pilgerkleidung zu verbrennen, um sich aus der Asche derselben erneuert herauszuschälen.
Mythos oder nicht. Ich habe die Reise gebucht. Sie durchgehalten. Ob per pedes oder per Rad, oder per Pferd oder Esel, die Idee ist es, die jene Menschen auf diesen Trip treibt, die sich auf dem Vorplatz der Kathedrale in die Arme fallen, sich auf die Schultern klopfen, sich alle Gute wünschen, in allen Sprachen, jeden Alters.
Welche Motive sich hinter diesen selbst auferlegten Strapazen verbergen, ist eigentlich egal. Sie offenbaren sich aber allen, die Augen haben zu sehen und Ohren haben, zu hören, weil etwas mitschwingt was nur nachfühlen kann, der dem Gottesdienst in der Kathedrale beigewohnt hat. Spätestens, wenn eine Ordensschwester mit perfektem Sophran „Großer Gott wir loben dich“ anstimmt und der Organist die Ventile zu den spanischen Trompeten öffnet und Längs- und Querschiffe in Schwingungen versetzt und wenn plötzlich die Sonnencreme in den Augen zu brennen beginnt, dann hast du dein Ziel erreicht.