Klein Ewalds Wunschbaum, eine Geschichte über einen lieben Menschen
Klein Ewalds Wunschbaum
Was macht ein kleiner Junge, der im Krieg geboren wurde, mit seinen Wünschen? Er schafft sich in seiner Fantasie einen Wunschbaum. An diesen Baum hängt er alle seine Wünsche auf und hofft, dass sie irgendwann in Erfüllung gehen. Seiner Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, sie ist etwas, das kein Geld kostet und niemand, auch nicht seine älteren Geschwister, kann ihm seinen Wunschbaum nehmen. Er erzählt ihnen gar nicht, dass es diesen wunderschönen Wunschbaum gibt. Zu oft mußte er erfahren, dass, wenn ihm einer seiner Wünsche erfüllt wurde, nach kurzer Zeit alles wieder weggenommen wurde.
Jedes Jahr zu Weihnachten bekam Klein Ewald ein Pferd, kein rosa Zauberpferd wie meine kleine Großnichte Leonie, sondern ein Steckenpferd. An einem Stiel war ein Pferdekopf und auf dem Stiel konnte man so tun, als reite man. Jedes Jahr wurde das Pferd anders angemalt, damit es neu aussah, und doch war es immer wieder das gleiche Pferd. Klein Ewald ließ sich nichts anmerken, dass er dieses Spiel durchschaut hat. Er gab dem Pferd jedes Jahr einen neuen Namen und dachte sich einfach immer wieder ein anderes Abenteuer aus, dass er mit seinem Steckenpferd erlebte.
Sein wirkliches Geschenk war seine Fantasie in seinem Kopf. Welches Kind hat heute noch Fantasie nötig, wenn es sogar trabende und wiehernde Pferde aus rosa Plüsch gibt. Die Elektroindustrie ersetzt die Fantasie der Kinder von heute. Hat man jedoch einen Wunschbaum, so kann man sich rote, blaue und orange Steckenpferde daran hängen, und alle diese Pferde haben eine andere Eigenschaft.
Das rote Pferd hat Räder und fährt auf einem Kirmeskarussell immer in der Runde, so oft und so lange wie Klein Ewald es sich wünscht. Mit dem blauen Pferd kann er über das weite Meer segeln. Es schaukelt auf dem Wasser und selbst bei hohem Seegang wirft es Klein Ewald nicht ab. Es segelt ihn zu seinen Trauminseln nach Norwegen. Mit dem orangen Steckenpferd fliegt Klein Ewald auf die Blumeninsel im Mittelmeer, wo die seltensten und farbenprächtigsten Orchideen blühen, die man sich nur vorstellen kann. Sein silbernes Steckenpferd fliegt mit ihm ins Himmelreich hinauf zu den Sternen. Von dort oben kann er alles betrachten was auf der Welt geschieht und niemand kann ihm etwas antun.
Mit den Jahren verändern sich die Wünsche an seinem Wunschbaum. Einen Weihnachten hängte er einen Fotoapparat an diesen Baum. Für kurze Zeit durfte er sich daran freuen, dann wurde auch dieser wieder weggenommen. So entstanden von nun an die Bilder in seinem Kopf. Er zeichnete sie mit Worten, die er viel später in seinem Leben aufschrieb. Nicht die kleinste Kleinigkeit hat Klein Ewald vergessen. Das Malen von Buchstaben konnte er schon mit 4 Jahren, und wieder war eine Zeit vergangen, an seinem Wunschbaum hing eines Weihnachtsabends ein Fahrrad.
Nicht etwa, dass Ihr glaubt, es gehöre ihm, nein, es war nur geliehen, ab und zu durfte er darauf fahren. Ein geliehenes Geschenk? Für Kinder von heute wohl nicht vorstellbar. Caroline und Leonie verfügen über einen ganzen Fuhrpark von Rädern und kleinen Autos, mit denen sie im Garten fahren können. So ändern sich die Zeiten. Dafür brauchen die heutigen Kinder auch keinen Wunschbaum, an dem sie ihre Wünsche aufhängen, denn ihnen wird meist mehr geschenkt, als sie sich wünschen können. Klein Ewald aber brauchte sein ganzes Leben lang einen Wunschbaum; denn ihm wurde nichts geschenkt, außer seiner lebhaften Fantasie, sich vorstellen zu können, wie schön es wäre, wenn auch nur einer seiner Wünsche in Erfüllung gehen würde.
Als er erkannte, dass es ihm nicht bestimmt war Wünsche erfüllt zu bekommen, begann er zu schreiben über all die vielen Menschen, die sein Leben geprägt hatten. All seine Wünsche und Träume konnte er schreiben und beschreiben, und nichts und niemand konnte ihn daran hindern. Sein Wunschbaum, er wird ihn begleiten bis zum Lebensende; denn seine Fantasie und seine Träume werden nie enden.
© H. R.