Leseprobe zu "Der Riss und..." von Margareta Schenk
In ihrem Buch (ebook) "Der Riss und andere Erzählungen" sind sieben kurze Geschichten der Autorin Margareta Schenk, teils spannend, mystisch oder nachdenklich.
Hier die Leseprobe zur ersten Geschichte:
Der Riss
Das Einzelzimmer der kleinen Pension war weiß getüncht und gemütlich eingerichtet. Ein kleiner Balkon, mit Liegestuhl vor dem Fenster, lud zum Ausruhen ein. Müde von der anstrengenden Reise legte ich mich aufs Bett und ließ meinen Blick über Wand und Decke wandern.
An einem Riss in der Decke, genau über meinem Kopf, blieb mein Blick hängen. Er zog sich von einer Zimmerwand zur anderen. Bedrohlich sah er nicht aus, dennoch löste er ein Frösteln in mir aus.
Wie lange mochte es den Riss schon geben? Kritisch betrachtete ich jedes Detail. Da! War der Riss noch nicht vollständig? Oder war die Stelle überstrichen? Mir fiel ein, dass die Pension an einem Hang lag. War der Riss durch Erdbewegungen verursacht? Mir wurde mulmig.
Damit ich nicht ständig die Decke anstarrte, beschloss ich zum Abendessen zu gehen. Beim Angesicht der korpulenten Wirtin, die eine unerschütterliche Ruhe ausstrahlte, kam mein inneres Gleichgewicht wieder ins Lot. Wie ein Fels in der Brandung, besser noch, wie ein Wellenbrecher schob sie sich gemächlich durch die Tische und jonglierte mit den Tellern wie ein Zirkuskünstler.
„Gefällt Ihnen das Zimmer?“, fragte sie freundlich, während sie die Bestellung aufnahm. Ich hatte plötzlich das Gefühl zu Hause zu sein und lehnte mich entspannt zurück.
Frische Leber und Blutwürste, sowie Speck mit Bratkartoffeln füllten nach und nach meinen leeren Magen und begruben die Gedanken an den Riss unter einer satten Trägheit. Ein kurzes Gespräch mit der Wirtin und ich verschwand in meinem Zimmer. Morgen sollte es früh weitergehen.
Erschöpft und schläfrig fiel mein Blick an die Decke, wo der Riss mich höhnisch angrinste. Bildete ich mir das nur ein, wollte er mich warnen? Doch wovor? Jetzt sprach er sogar zu mir:
„Ich bin immer noch hier und ich bleibe auch hier, du kannst dich darauf verlassen und ruhig schlafen. Es wird sich nichts ändern!“
Lächeln drehte ich mich zur Seite. Schlief ich schon, oder warum unterhielt ich mich mit einem Riss in der Decke?
Mitten in der Nacht schreckte ich auf, von einem lauten Knacken, dem ein prasselndes Geräusch folgte. Ich ließ mich aus dem Bett fallen und wurde von der einstürzenden Zimmerdecke begraben.
Es war mir kaum möglich mich zu bewegen. Kalt war es, staubig und stickig. Meine Kehle war trocken, ich räusperte mich und hustete, der Brustkorb schmerzte. Das beruhigte mich trotz der ausweglosen Lage, ich lebte noch. Ob das ganze Haus eingestürzt war? Wie lange würde es dauern, bis mich jemand fand? Würde mich überhaupt jemand finden?
Bei diesem erschreckenden Gedanken fing mein Herz an zu rasen, schneller und schneller, überschlug sich, fing sich, pochte immer lauter, so laut, dass sonst nichts mehr zu hören war.
Die Luft war stickig und das Atmen fiel mir immer schwerer. Würde ich ersticken bevor mich jemand fand? In meinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander, unmöglich einen klaren Gedanken zu fassen. Dazu kam das unerträglich stark pochende Herz, unregelmäßig und unterschiedlich laut schlug es, dass mir die Ohren nur so dröhnten. Oder war das gar nicht mein Herz?
Suchte man nach mir? Der Gedanke ließ mich nicht mehr los und ich fing an zu schreien. Laut und hysterisch schrie ich um Hilfe, bis ich nur noch mühsam ein Krächzen aus meiner wunden Kehle pressen konnte.
Entmutigt schloss ich die Augen. Plötzlich spürte ich kräftige Hände auf meinen Schultern, die mich erbarmungslos rüttelten. Über mich gebeugt, eine unerschütterliche Ruhe ausstrahlend, stand die Wirtin.
Über ihr, in der Decke, grinste mich der Riss an, als wolle er die Worte meiner Gastgeberin unterstreichen:
„Sie sollten abends nicht mehr so kräftig essen, dann haben sie auch keine Alpträume!“
Mit der Bettdecke wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und sah mich ungläubig und verstört im Zimmer um. Hatte ich wirklich alles nur geträumt? Es war so real. Noch immer tat mir der Brustkorb weh und meine Kehle war wie zugeschnürt.
Aufmunternd, fast mütterlich , bot mir die Wirtin an ihr zu folgen. Ein Schnaps würde mir sicher gut tun, für die Verdauung und zum Einschlafen.
Schlaftrunken hangelte ich mich aus dem Bett, warf den Bademantel über, schlüpfte in die Pantoffeln und folgte ihr widerspruchslos. Die Zimmertür entglitt meiner Hand und fiel mit lautem Krachen ins Schloss. Wie ein Echo wiederholte sich der Knall, als dahinter die Decke einstürzte.
Es folgen noch:
Ein neuer Anfang
Lisa wird zum Straßenkind
Post aus der Vergangenheit
Medium und
Sackgasse
Ein Lesevergnügen, nicht nur für trübe Herbstabende.
Das Buch ist mittlerweile überarbeitet und in einer neuen Version erschienen. Titel wurde geändert in: "Momente der Entscheidung"