Lili, Schönheit mit grünen Augen
Das erste, was ich von Lili wahrnahm, war ihre Stimme. Es war Sommer, ich befand mich auf dem Balkon und zupfte vertrocknete Blätter aus den Blumen, als plötzlich ein lautes Schreien und Kreischen ertönte. Es kam aus der Kiefer schräg gegenüber, und im ersten Moment dachte ich, eine Krähe habe sich über irgendetwas geärgert. Doch als ich genauer hin hörte, wurde mir klar, dass es sich um eine Katze handelte. Um eine von meinen etwa? Ich flitzte nach unten.
Vor der Kiefer standen eine Frau und ein Mann und schauten mit weit in die Nacken gelegten Köpfen nach oben in den Baum und riefen so etwas ähnliches wie „Willi“. Ich schaute auch nach oben, konnte aber nichts entdecken, vernahm lediglich dieses Schreien, das stakkatoartig aus dem dichten Zweigwerk drang. Was denn da los sei, wollte ich wissen. Eine kleine Katze, bekam ich zur Antwort und hatte also richtig vermutet. Wieder schaute ich nach oben und versuchte den Verursacher der verzweifelten Töne zu orten, konnte aber immer noch nichts entdecken. Doch dann bewegte sich ein Ast, und ich konnte eine kleine Katze sehen, die unsicher auf ihm entlang balancierte, hilfesuchend nach unten blickte und immer wieder kleine spitze Schreie ausstieß.
Wie die Kleine denn da rauf gekommen sei, fragte ich, und muss im Nachhinein zugeben, dass das wohl die blödste Frage war, die ich je gestellt hatte. Denn wie kommt eine Katze in einen Baum? Genau, sie klettert einfach rauf!
Wie sie denn nun wieder runter kommen solle, fragte ich, und diese Frage war schon besser, denn anstatt nach unten kletterte das Kätzchen in seiner Panik immer weiter rauf und drohte jeden Moment abzustürzen. Aufgeregt riefen der Mann und die Frau immer wieder den Namen des Kätzchens, und als das Kätzchen schon wieder eine Astgabel höher geklettert war, kamen wir gemeinsam zu dem Schluss, dass es wohl am besten sei, die Feuerwehr zu alarmieren. Ich war gerade im Begriff ins Haus zu gehen um zu telefonieren, als ein Auto angefahren kam. In dem Auto saß meine Nachbarin Katia, eine Französin, und innerhalb weniger Sekunden stellte sich heraus, dass das Kätzchen im Baum ihr gehörte. Bei dem aufgeregten Paar handelte es sich um ihre Schwiegereltern, und die waren mittlerweile sehr zerknirscht, weil sie ihrer Meinung nach nicht genügend auf das Kätzchen aufgepasst hatten – was man nicht unbedingt abstreiten konnte…
Katia meinte dann, auf den Feuerwehreinsatz verzichten zu können, denn sie war sehr zuversichtlich, das Kätzchen aus eigener Kraft vom Baum zu holen beziehungsweise runter locken zu können. Anfangs sah das gar nicht so aus, denn unter nach wie vor lautem Schreien kletterte das Kätzchen immer weiter nach oben. Doch Katia gab nicht auf. „Descands,“ rief sie immer wieder, „descands, Lili.“ Denn das Kätzchen hieß nicht Willi, sondern Lili, wie sich mittlerweile herausgestellt hatte.
Das Ganze zog sich über mehr als eine halbe Stunde hin, und alle Beteiligten waren äußerst genervt. Vor allem Lili, der jetzt nicht nur der Absturz drohte, sondern auch eine Stimmbänderentzündung – durch ihr lautes Schreien war sie ganz heiser geworden.
Ich befürchtete schon, der Anruf bei der Feuerwehr sei unvermeidlich, als Lili plötzlich das machte, was Katia ihr unermüdlich auftrug: sie stieg runter. Irgendwie hat die kleine Katze begriffen, wie sie den Rückwärtsgang einlegen konnte. Wie ein Äffchen klammerte sich am Stamm fest und ließ sich Stückchen für Stückchen daran herunter. Natürlich ging das nicht hopplahopp, sondern in Superzeitlupentempo, aber irgendwann war sie doch so weit unten, dass Katia sie greifen konnte. Wir atmeten auf.
Lili und ich begegneten uns regelmäßig auf der Straße, wo sie sich in den Staub fallen und von mir streicheln ließ – was mir die Gelegenheit gab, sie genauer zu betrachten. Obwohl ihr Fell durch die ungewöhnliche Maserung struppig aussah, war es weich und seidig. Das Näschen und die Schnurrhaare waren kohlrabenschwarz, und ihre riesigen grünen Augen leuchteten - je nach Lichteinfall - wie mit kleinen Goldsprenkeln durchsetzte Türkise. Die auf den ersten Blick unscheinbar wirkende Katze entpuppte sich bei näherem Hinsehen als ausgesprochen hübsch.
Nach einiger Zeit fiel mir auf, dass ihr Bäuchlein dicker wurde. Lili schwanger und wenige Wochen später Mutter von fünf niedlichen Kätzchen. Jedes sah anders aus, und wahrscheinlich stammten auch alle von unterschiedlichen Erzeugern – der Wurf einer Katze kann nämlich verschiedene Väter haben.
Drei der Winzlinge fanden bald ein gutes Zuhause, die anderen beiden behielt Katia, was Lili gar nicht lustig fand. Katzenmütter kümmern sich zwar hingebungsvoll um ihre Kinder, sobald diese aber alt genug sind, um für sich selbst zu sorgen, und das ist nach ungefähr drei bis vier Monaten der Fall, werden sie erbarmungslos verstoßen. Zumindest in der freien Natur. Soll für sich selber sorgen, der Nachwuchs. Die Mutter hat ihre Schuldigkeit getan und kümmert sich nun wieder um sich selbst (oder um die nächsten Jungen). Das ist in ihren Genen so veranlagt und hat nichts mit seelischer Grausamkeit oder Verantwortungslosigkeit zu tun.
Aufgrund der nachbarschaftlichen Nähe hatten Felix, Lieschen und Lili längst eine lockere Freundschaft entwickelt, und es dauerte auch nicht lange, bis Lili Katzenleiter und Katzenklappe entdeckte und bei mir ein und aus marschierte. Zuerst suchte sie in der Küche nach etwas Fressbarem. Bis auf ein paar von Felix oder Lieschen übrig gelassene Körnchen wurde sie allerdings nicht fündig. Danach zog es sie in mein Arbeitszimmer, wo sie sich vorzugsweise auf das Faxgerät oder unter die Schreibtischlampe legte. Beide Plätzchen hatten etwas zu bieten, was Katzen sehr mögen: sie waren warm. Ihr dritter Lieblingsplatz war mein Stuhl, auf dem sie sich niederließ, sobald ich meinen Hintern von ihm entfernte. Auf ihm verbrachte sie ganze Nächte, vor allem bei schlechtem Wetter und niedrigen Temperaturen.
Katzen halten sich da auf, wo sie sich wohl fühlen und wo sie was zu Fressen bekommen. Idealerweise sind diese Umstände an einem Platz vereint, und alle Beteiligten sind zufrieden und glücklich. Es gibt aber auch Katzen, die fressen an dem einen Ort, gehen zum Wohlfühlen woanders hin. Lili war so eine Katze. Obwohl sie immer mit großen Augen zuschaute, wenn ich Felix und Lieschen fütterte, bekam sie von mir nichts. Nicht aus Geiz, sondern aus Überlegung. Lilis Zuhause war bei Katia, und dort sollte sie auch fressen. Ich halte es nämlich für eine sehr schlechte Angewohnheit, Katzen anderer Leute Katze, und kann es umgekehrt überhaupt nicht leiden, wenn ich merke, dass Felix sich woanders den Bauch voll geschlagen hat. Die meisten dieser vermeintlichen Tierfreunde tun damit auch nichts Gutes. Sie stellen einer Katze beispielsweise Milch hin, was bei ausgewachsenen Tieren zu Durchfall führt. Wiener Würstchen und Schweinekoteletts sind ebenfalls keine Nahrung für Katzen, mit beidem ist Felix aber schon öfter nach Hause gekommen. Wie anfangs schon gesagt, „Beute“ bringen Katzen immer stolz nach Hause…
Sie überlege sich, für Lili ein anderes Zuhause zu suchen, meinte Katia eines Tages. Sie käme nur noch zum Fressen nach Hause, behandle Napoleon und Bambu (Lilis Söhne) nach wie vor wie Feinde und schmuse überhaupt nicht mehr
Lili schmust nicht mehr? Da konnte ich aber was anderes berichten. Fritzchen war verschmust gewesen, Felix und Lieschen schmusten ebenfalls gern, aber das Schmusebedürfnis von Lili war unübertroffen. Hätte ich es zugelassen, wäre sie von morgens bis abends auf meinem Schoß oder zwischen mir und der Computertastatur gelegen. Ich kannte kein Wesen, weder Mensch noch Tier, dem körperliche Nähe so wichtig war wie Lili. Wenn sie mit Katia also nicht mehr schmusen wollte, dann war die Ansage klar und eindeutig: bei dir fühle ich mich nicht mehr wohl. Der Grund dafür mussten die Söhne sein, denn mit Felix und Lieschen hatte Lili keine Probleme. Aber das waren ja auch nicht ihre Kinder…
Langer Rede kurzer Sinn: ich mache Katia das Angebot, Lili zu adoptieren. (Dass der Tatbestand genau umgekehrt war, ist mir erst später klar geworden.) Katia war einverstanden, und Lili musste bei der Raubtierfütterung nicht mehr zuschauen, sondern bekam auch ihren Anteil.
Nun könnte man vermuten, dass Lili von diesem Zeitpunkt an die gesamte Wohnung in Beschlag nahm. Dem war aber nicht so, und fasziniert beobachtete ich, mit welch feinsinniger Strategie die kleine Katze ihr Terrain eroberte. Immer mit Rücksicht auf die Rangfolge.
Anfangs hielt sie sich – wie gewohnt – in meinem Arbeitszimmer auf. Nach ein paar Tagen saß sie zum ersten Mal auf der Treppe zur Galerie, ging aber nicht nach oben. Sie einfach saß nur da und betrachtete das Wohnzimmer aus der neuen Perspektive. Wieder ein paar Tage später sprang sie zu mir aufs Sofa, - wohl um zu gucken, ob und was passiert – blieb ein paar Minuten da sitzen, tippelte dann aber wieder brav ins Arbeitszimmer. So ging es weiter. Woche für Woche erweiterte sie ihren Radius und verweilte immer länger an den jeweiligen Orten. Doch sobald Felix oder Lieschen auftauchten, rannte sie wie ein geölter Blitz ins Arbeitszimmer – zu ihrem angestammten Platz.
Insgesamt dauerte es mehrere Monate bis sie sich so akklimatisiert fühlte, dass sie auf dem Sofa liegen blieb und sich auch aufs Bett wagte, wenn Felix und Lieschen dort schliefen.
Das Ganze ist nun über fünf Jahre her, und ich habe die anhängliche kleine Lili längst in mein Herz geschlossen. Auch Felix und Lieschen haben begriffen, dass sie nicht mehr Gast sondern Teil der Familie ist. Doch die Nähe und Vertrautheit, die zwischen den beiden herrscht, wird für Lili wohl verschlossen bleiben. Vielleicht ist das auch eine Sache der Mentalität. Wie bei Menschen. Manche lieben sich, manche mögen sich, und manche respektieren sich einfach nur ...
Geschichte aus meinem Katzenbuch: Auf leisen Sohlen
http://diekunterbuntekatzenseite.de/index.php?id=4...
Eine sehr schöne Geschichte, interessant geschrieben, mit schönen Fotos dekoriert.