NS-Prozess in Itzehoe und Fragen
Irmgard F. wirft weitergehende Fragen nach freiem Willen, Selbstbestimmung und Verantwortung auf - sind wir nur Kinder unseres Schicksals?
Wer meint, jeder sei seines eigenen Glückes oder seines eigenen Lebens Schmied, der dürfte gewaltig irren. Das, was wir als Individuen sind, steht nur sehr eng begrenzt in unserer eigenen Macht. Freier Wille, Selbstbestimmung, Verantwortung - schöne Worte, aber sehr fragwürdig. Sind wir nicht hauptsächlich ein Produkt unserer Sozialisierung?
Meine Gedankengänge dahinter hat der Fall Irmgard F. aktualisiert. Irmgard F., das ist die 97-jährige Frau, die jetzt wegen ihrer Sekretärinnentätigkeit im KZ Stutthof, als sie 18/19 Jahre alt war, vom Landgericht Itzehoe wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.500 Fällen verurteilt wurde zu zwei Jahren auf Bewährung. Unabhängig davon, dass Irmgard F. wohl keine Einsicht in die angebrachte Durchführung des Prozesses und keine Reue zeigt, ebenso wenig die Bereitschaft, vom Saulus zum Paulus zu werden, wird deutlich, wie äußere Lebensumstände uns maßgeblich prägen und die Frage nach persönlicher Verantwortung aufwerfen.
Wäre Irmgard F. in der Nachkriegszeit aufgewachsen, so viele Jahre fehlten ihr ja nicht, wäre ihr Leben als junge Erwachsene wahrscheinlich ganz anders verlaufen, das sie nicht dermaßen in Konflikt mit dem Gesetz gebracht hätte wie jetzt. Und wir, die wir uns gern voller Unverständnis über die Mitläuferschaft der Deutschen damals in der NS-Zeit entrüsten, wie hätten wir uns damals arrangiert? Dass wir zumeist Widerstand geleistet hätten, dürfte niemand glauben. Wir ständen heute womöglich auch vor Gericht.
Wir haben das Glück, in einer freiheitlichen Demokratie aufgewachsen und groß geworden zu sein, in der uns gestattet ist, jenseits unserer uns prägenden speziellen Erziehung und individuell unterschiedlichen Sozialisierung uns zu entfalten. Optimale Bedingungen für das, was wir freien Willen und Selbstbestimmung nennen. Aber dass das ohne diese optimalen Bedingungen nicht so wäre, zeigt wieder deutlich, dass äußere Lebensumstände uns maßgeblich prägen.
Wären wir etwa in dem parteidominierten kommunistischen China aufgewachsen, das sich längst in ein scheinkommunistisches Stamokap-System mit diktatorischen Grundzügen gewandelt hat, wie würden wir wohl heute denken und uns anpassen?
Wären wir in einem islamistischen Staat aufgewachsen, wären wir dann heute vielleicht sogar Fundamentalisten mit innerer Terrorbereitschaft und könnten den verruchten Westen und die Ungläubigen nicht verstehen, würden sie sogar als gefährliche Feinde ansehen und sie hassen?
Wären wir in Russland groß geworden, würden wir vielleicht Putin zujubeln, dem Messias eines großen russischen Reiches?
Wären wir in einem armen, korruptionsaffinen afrikanischen Staat aufgewachsen und würden sehen, wie Menschen verhungern oder bei Milizenauseinandersetzungen sterben, was würden wir tun?
Wären wir ...
Wir wären jedenfalls andere, wären wir unter anderen Umständen groß geworden. Selbstbestimmung, freier Wille, Verantwortung - wie schrieb ich oben: Schöne Worte. Irgendwie sind wir doch nur Kinder unseres Schicksals, das wir nicht bestimmt haben.
Übrigens, Herr Helbling: Herr Stark trauert dem Verlust der deutschen Ostgebiete sehr nach, ist voller Vorwürfe den Alliierten gegenüber und sehnt sich nach den deutschen Grenzen von 1937 zurück. Aber das ist eine andere Geschichte.