Wilhelm Neurohr: Nach der Wahl (Leserbrief an die RZ)
Leserbrief an die Recklinghäuser Zeitung zur Berichterstattung vom 10. Mai über die Landtagswahlergebnisse:
Nach der Wahl: Werden die 41 % Nichtwähler ernst genommen?
Das eigentliche Drama der zurückliegenden Landtagswahl, nämlich die von Wahltermin zu Wahltermin immer weiter sinkende Wahlbeteiligung, war den Medien und den Parteipolitikern allenfalls eine Randnotiz wert. Der Gewöhnungseffekt an diesen Trend lässt die Beteiligten achselzuckend zur Tagesordnung übergehen?
Da seien halt die Anhänger dieser oder jener Partei diesmal als Protestwähler zu Hause geblieben, so lauteten die müden Erklärungen. Oder es gab daraufhin Wählerschelte für die „demokratiemüden“ oder „partei- und politikverdrossenen“ Nichtwähler, aber keinerlei Selbstkritik der Parteien.
In Wirklichkeit stellt sich für die machtbewussten Parteien und ihre Kandidaten die Frage der demokratischen Legitimation der so knapp gewählten „Sieger“ (und der abgewählten „Verlierer“), die sich „den Staat zur Beute gemacht haben“ (Richard v. Weizsäcker / CDU). Denn die „großen Volksparteien“ haben abzüglich der 41% Nichtwähler in Wirklichkeit nicht dürftige 34,5% Zustimmung jeweils erhalten, wie die Wahlstatistik Glauben machen will, sondern umgerechnet eigentlich sogar nur 20,5 %!
Fast 80% der Wahlberechtigten haben selbst den größeren Parteien folglich keinerlei Zustimmung gegeben! Bei den kleineren Parteien sinkt die Zustimmung unter Einrechnung der Nichtwähler bis auf reale 2,5%; ihnen fehlt also eigentlich mehr als 97% des Wählervotums für ihre Legitimation, an Koalitionen mitzuwirken. Soviel zum wahren Rückhalt unserer „siegreichen“ Parteipolitiker im Wahlvolk!
Die Parteipolitiker können nichts dafür, dass die Wähler sich immer mehr zurückhalten? Von wegen! Sie wünschen sich offenbar nichts sehnlicher als eine bloße Zuschauerdemokratie und folgsames Stimmvieh. Dies belegten eindeutig wenige Wochen vor der Wahl die Internet-Abfragen der bundesweiten Initiative von „Mehr Demokratie e.V.“ bei den 31 Kandidatinnen und Kandidaten in den 5 Landtagswahlkreisen des Kreises Recklinghausen.
Auf die 7 Fragen nach ihrer Meinung zu mehr direkten demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger bei Sachfragen oder bei Kandidatenaufstellungen und der Zusammensetzung von Parlamenten drückten sich die meisten Kandidaten insbesondere von CDU und SPD vor einer Beantwortung. Und diejenigen, die antworteten, wie etwa Josef Hovenjürgen (CDU) oder Eva Steininger-Bludau (SPD), verneinten durchweg mehr direktdemokratische Einflussmöglichkeiten. Lediglich aus den kleineren Parteien gab es hier und da Zustimmung zu einzelnen basisdemokratischen Elementen.
Als im vorigen Jahr des 60-jährigen Bestehens unseres bewährten Grundgesetzes feierlich gedacht wurde, da war in Festreden die notwendige Ergänzung und Weiterentwicklung der „repräsentativen“ parlamentarischen Demokratie durch mehr Einfluss der Bürgerinnen und Bürger eingefordert worden. Denn laut Grundgesetz wirken die Parteien lediglich bei der demokratischen Meinungs- und Willensbildung mit, neben den Bürgern mit ihren plebiszitären Rechten.
Denn schließlich waren es weniger die Parteien, Parlamente und Regierungen, die wesentliche gesellschaftliche Veränderungen oder die Wiedervereinigung herbeigeführt haben, sondern stets die zivilgesellschaftlichen Initiativen (Umweltbewegung, Frauenbewegung, Friedensbewegung, Sozialbewegung, runde Tische usw.). Demgegenüber sind die Parteien geradezu unbewegliche Relikte aus dem 19. und 20. Jahrhundert.
Wie entwicklungs- und lernfähig ist also unsere zur bloßen Parteien-Demokratie geschrumpfte Demokratie im 21. Jahrhundert, dem Jahrhundert der mündigen Zivilgesellschaft?
Wilhelm Neurohr
P.S. Vor der Wahl mochte die Recklinghäuser Zeitung einen diesbezüglichen Leserbrief von mir (wahrscheinlich wegen „Überlänge“ nicht veröffentlichen, während sie sich andererseits redlich aber vergeblich bemühte, mit publizistischen Mitteln die Wähler an die Wahlurne zu bekommen….)