Wilhelm Neurohr: DAS SOUVERÄNE VOLK ALS BLOSSER KANZLERWAHL-VEREIN?“ (Leserbrief)
Wilhelm Neurohr: DAS SOUVERÄNE VOLK ALS BLOSSER KANZLERWAHL-VEREIN?“ (Leserbrief)
... zu diversen Berichten und Kommentaren zum bevorstehenden Wahljahr 2013:
„BUNDESTAGS-WAHLJAHR:
DAS SOUVERÄNE VOLK ALS BLOSSER KANZLERWAHLVEREIN?“
(Klarstellungen über die missverstandene und verfälschte parlamentarische Demokratie)
Werden im Bundestags-Wahljahr 2013 nicht nur die einstmals „großen“ Parteien, sondern wird das gesamte Wahlvolk zum bloßen „Kanzlerwahlverein“ degradiert? In unserer Demokratie ist laut Verfassung das Volk der Souverän. Insofern bedarf der von der Journalistenzunft in Medien und Talkshows sowie Meinungsumfragen erweckte Eindruck einer grundle-genden Korrektur, die Wähler könnten in einer Art Persönlichkeitswahl zwischen Merkel und Steinbrück als künftige „Regierungschefs“ entscheiden. Und anschließend regiere eine Kanz-lerin oder ein Kanzler mit dem Votum des Volkes als „Regent“ oder als eine Art „Staatsoberhaupt“ für 4 Jahre unser Land, am besten eine „Führung mit starker Hand“? (Ein Rest von Sehnsucht nach Feudalherrschaft, Kirchenstaat oder Monarchie?). Es bestehen überhaupt grundlegende Missverständnisse über unsere parlamentarische Demokratie mit ihrer Rollen-verteilung zwischen Legislative (gesetzgebendes Parlament) und Exekutive (ausführende Regierung), seitdem der frühere Staatsbürgerkunde-Unterricht in den Schulen abgeschafft wor-den ist. Deshalb ist etwas „Nachhilfe“ im Bundestagswahljahr zur Klarstellung vonnöten:
1. Bei der Bundestagswahl entscheiden die Wähler mit ihren 2 Stimmen über die politische Zusammensetzung des Parlamentes und seine Mehrheitsverhältnisse einerseits und die örtlichen Wahlkreiskandidaten der Parteien andererseits, an deren Vorauswahl sie leider nicht beteiligt sind. Eine Persönlichkeitswahl über die konkurrierenden „Kanzlerkandidaten“ findet nicht statt. Die Wahl des Kanzlers oder der Kanzlerin erfolgt durch den Bundestag. In der Regel ist das zwar der vorher „vermarktete“ Spitzenkandidat (Listenführer) der Mehrheitspartei, es könnte aber vom Bundestag theoretisch jemand anderes gewählt werden (z. B. Gabriel statt Steinbrück, wenn über diesen während des Wahlkampfes noch mehr Negatives in die Öffentlichkeit gelangt; oder ein grüner Politiker als Kanzler einer grün-roten Koalition, falls die Grünen überraschend mehr Stimmen erhalten würden als die Sozialdemokraten, siehe Baden-Württemberg). Der alte CDU-Wahlslogan „auf den Kanzler kommt es an“, gilt also nur eingeschränkt. Letztlich beauftragt der Bundespräsident gemäß dem Votum des Bundestages den vorgeschlagenen Kanzler oder die Kanzlerin mit einer Koalitions- und Regierungs-bildung. Er ernennt auch anschließend Kanzler und Minister.
2. In einer parlamentarischen Demokratie „regiert“ anschließend nicht die so genannte „Re-gierung“, sondern eben das gesetzgebende Parlament als Legisltive mit dem Initiativrecht für neue Gesetzesvorschläge. Anders als in den Präsidialdemokratien wie Frankreich, Amerika oder Russland, wo der Präsident als „Staatschef“ mit weitrei-chenden Kompetenzen auch gegenüber dem Parlament ausgestattet ist, hat unsere „Regierung“ lediglich die vom Parlament beschlossenen Gesetze auszuführen und auf deren Einhaltung zu achten. Auch sämtliche Ver-handlungen mit anderen Staatschefs oder in der EU führt die Kanzlerin nur im Auftrag und mit Vorgaben durch das entscheidungskompetente Parlament, auch wenn in der ziemlich undemokratischen EU längst die Exekutive die Rolle der Legislative teilweise übernommen hat. Fälschlich werden auch im Bund in der Regel die meisten Gesetzesvorschläge in den Ministerien (oft mit dort tätigen Lobbyisten) erarbeitet statt durch das Parlament selber, dass trotz seiner Heerschar wissenschaftlicher Mitarbeiter nur ausnahmsweise eigene Gesetzesentwürfe einbringt oder solche von der Regierung mit klaren Vorgaben einfordert. Stattdessen bestim-men in der Praxis fälschlich die Fachminister zumeist die inhaltlichen politischen Debatten und das Parlament reagiert bloß darauf.
3. Die sogenannte politische Richtlinienkompetenz der Kanzlerin bezieht sich lediglich auf das Innenverhältnis im Bundeskabinett zwischen Kanzlerin und Ministern (so wie der Bür-germeister einer Stadtverwaltung der Chef des Dezernenten- oder Beigeordnetenkollegiums ist). Die Richtlinien der Politik bestimmt bei uns (eigentlich) das Par-lament im Auftrag des souveränen Volkes und niemand sonst. Insofern müsste eine Regierung nicht aus Parteipoliti-kern der Koalitionsparteien zusammengesetzt sein, sondern am besten durch fähige und kom-petente Fachleute statt durch Parteigänger, oder zumindest mit Experten auch der Minderheitsparteien als Spiegel des gesamten Parlamentes und Parteienspektrums und damit des Wählerwillens. Eine Regierung des „ganzen Volkes“ dürfte nicht nur parteipolitische Interessen ihrer Herkunftspartei bedienen. Die Mehrheitsmeinung wird schließlich im Parlament durch Abstimmungen ermittelt, so dass die Exekutive sich eher neutral zu verhalten hätte.
4. In der Hierarchie der Staatsämter kommen folglich nach dem Bundespräsidenten zunächst die Parlamentspräsidenten von Bundestag und Bundesrat als Volksvertreter und erst an vierter Stelle die Kanzlerin als bloße Exekutiv-Vertreterin. Das hält sie nicht davon ab, sich wiederholt in Fernsehinterviews selber fälschlich als „Staatsoberhaupt“ zu betrachten und unter dem Beifall der Medien einen „präsidialen Führungsstil“ zu praktizieren. Mancher schaut auch neidvoll auf die Nachbarländer England, Schweden, Niederlande, Spanien u. a. mit ihren Monarchinnen als „Staatsoberhäupter“. In unserer modernen Demokratie ist solch eine Sehnsucht völlig fehl am Platze. Vielmehr sieht unsere Verfassung in Bund und Ländern neben parla-mentarischen Entscheidungen auch direktdemokratische Abstimmungen durch das souveräne Volk vor, außerdem ermöglicht das Gesetz Wahlkreisversammlungen der Abgeordneten. Die Wähler sollten diese im Bundestagswahljahr überall einfordern, weil sie so gut wie gar nicht stattfinden.
Fazit: Auch über 60 Jahre seit Bestehen unseres vorbildlichen Grundgesetzes haben wir noch nicht den Stand einer modernen und entwicklungsfähigen Demokratie erreicht, die dem sou-veränen Volk und seinen gewählten Vertretern die ihm gebührende Rolle einräumt. Demokratie ist deshalb täglich neu zu erkämpfen und der unsägliche Ruf vieler Medien nach einer „starken Führungsfigur“ im Kanzleramt, die dem Volk „ihre“ Politik nur „besser erklären“ muss, ist als Entmündigung des Wahlvolkes zurückzuweisen!
Wilhelm Neurohr