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Haben wir de facto einen Kirchenstaat? (Leserbrief)

An das Medienhaus Bauer, Marl:

− Von: Dietrich Stahlbaum, Recklinghausen
− Betr.: „Höchste Zeit, das Konkordat zu überprüfen“
− Vom: 29. November

Ja, Herr Weber, es ist schon merk- und kritikwürdig, dass der Staat Kirchengehälter zahlt, jedes Jahr mehr als 442 Millionen Euro.

Aber das ist nicht alles: Hinzu kommen 42 Milliarden Euro − wohlgemerkt ebenfalls jährlich − für den Unterhalt kirchlicher Einrichtungen und Verbände. Sogar Caritas und Diakonie, die beiden größten Sozialkonzerne Deutschlands mit zum Teil schlecht bezahlten rd. 1 200 000 Mitarbeitern und einem zig-Milliarden-EURO-Jahresumsatz, werden mindestens zu 90% vom Staat unterhalten. [Quelle: Carsten Frerk: «Caritas und Diakonie in Deutschland», Aschaffenburg 2005]

Hinzu kommen Zuschüsse für die Seelsorge an öffentlichen Einrichtungen (Militär, Polizei, Gefängnis, Anstalten, ca. 66 Mio. €/Jahr). [Quelle: Spiegel Online 08.06.2010] Außerdem gibt es staatliche Zuwendungen in Millionenhöhe für Kirchen- und Katholikentage, Papstbesuche, Weltjugendtreffen usw.

Auch trifft es zu, dass auf diese Weise die beiden Großkirchen in Deutschland von etwa einem Drittel der Bürgerinnen und Bürgern, die keiner oder einer anderen Glaubensgemeinschaft angehören, mit finanziert werden.

Zurückgeführt wird dies auf eine Vereinbarung, die vor 200 Jahren getroffen worden ist, und auf das Reichskonkordat zwischen Nazideutschland und dem Vatikan im Jahre 1933. Dieser Vertrag räumte der katholischen Kirche Sonderrechte ein, die auch heute noch gelten, und verschaffte Hitler einen erheblichen Prestigegewinn im Inn- und Ausland. Das Reichskonkordat hat sicherlich dazu beigetragen, dass der Diktator nicht exkommuniziert worden ist. So war Hitler bis zu seinem Ende Katholik! Die Sonderrechte der evangelischen Kirche stammen größtenteils aus der Weimarer Reichsverfassung.

Haben wir de facto einen Kirchenstaat, obwohl sich immer mehr Menschen vom Glauben und von der Kirche abwenden?

(Text am 3. Dezember geändert und durch Fotokopie ergänzt, dst.)

Am 6. Dezember in den sechs Zeitungen des Medienhauses Bauer veröffentlicht.

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3 Kommentare

> "Da fragt man sich: Leben wir de facto in einem Kirchenstaat"

Ja, leider.

> " in dem sich immer mehr Menschen vom Glauben und von der Kirche abwenden?"

Das spielt keine Rolle. Bin auch Christ und dennoch für eine Trennung von Religion und Staat.

Kommentar von Echsenwut =>http://www.blog.de/user/Echsenwut/ :

Nach Lesart bundesdeutscher Staatsdoktrin stützt sich die BRD nunmal auf die Bibel einerseits und die christliche Lehre andererseits. Dieses Bekenntnis wird gerade von der amtierenden Regierung als alleinausschlaggebend bezeichnet - und stellt, wie in Ägypten die Staatsreligion Islam ja auch, die Quelle der Rechtsfindungsphilosophie dar. Dieser Umstand, der die christliche Lehre beinahe in den Rang einer Staatsreligion erhebt, ist als für alle verbindlich bekannt und benannt.

So sich denn die dort in diesem religiösen Bekenntnis enthaltenen Vorschriften und Bestimmungen im Einklang mit allen anderen nationalen und internationalen Gesetzen befinden, wird man diesen (u.a. Finanzierungs-) Phänomenen nur durch Entzug in Form von Auswanderung entkommen.

Eine Aushebelung, auch und gerade auf demokratischem Wege, wird und kann nicht gelingen - sie wurde zur Säule des Staates erklärt und müsste in Frage gestellt werden, was wiederum jeden Widerstand dagegen in den Verdacht führt, "umstürzlerisch", "islamistisch" oder sonstwie "terroristisch" gesinnt zu sein.

Tja ..... wo allerdings dann die "Religionsfreiheit" im weiteren Sinne bleiben soll, muss jeder für sich selbst beantworten, negieren oder auch vertreten.

Diskriminierungen
Kirche als Arbeitgeber

BOCHUM. (hpd/rir) „Katholisch operieren – evangelisch Fenster putzen“ – unter diesem Motto fand am vergangenen Freitag zum ersten Mal eine gemeinsame Veranstaltung von ver.di und Religionsfrei im Revier statt. Trotz der im Vorfeld starken Bedenken seitens ver.di, sich auf eine Zusammenarbeit mit "Atheisten" einzulassen, zeichnete sich für die bevorstehende Veranstaltung ein erfolgreicher Verlauf ab.

Der Vortragsraum im ver.di-Gebäude in Bochum war gut gefüllt. Interessierte waren gekommen, um den Vorträgen von Ingrid Matthäus-Maier als Sprecherin der GerDiA-Kampagne und ver.di-Gewerkschaftssekretär Georg Güttner-Meyer zuzuhören. Die Organisationen eint der Wunsch, nicht länger hinzunehmen, dass Arbeitnehmer in Einrichtungen der beiden großen Kirchen in Deutschland Einschränkungen des Arbeitsrechts und ihrer Grundrechte ausgesetzt sind.

Ingrid Matthäus-Maier referierte als erste. Rund 1,3 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland in kirchlichen Einrichtungen, bei Caritas und Diakonie. Für sie gilt das kirchliche Arbeitsrecht, der sogenannte dritte Weg. Das bedeutet, dass im Unterschied zum bundesweit üblichen zweiten Weg, in dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam über die Arbeitsbedingungen verhandeln und in dem auch Streiks als Mittel im Arbeitskampf eingesetzt werden dürfen, die Rechte der Arbeitnehmer zugunsten des Einflusses der Kirchen beschnitten werden. Die Kirchen nehmen sich das Recht heraus, eigene Bedingungen aufzustellen, teils geringere Löhne zu zahlen und Einfluss auf das Privatleben ihrer aktuellen oder zukünftigen Mitarbeitenden auszuüben.

Konfessionsfreie oder andersgläubige Menschen bekommen in Einrichtungen beider Kirchen keinen Job, wie eine zu Beginn der Veranstaltung gezeigte Panorama-Reportage anhand mehrerer Beispiele aufzeigt. In dieser Sendung kommt eine besondere Perfidie dadurch zum Ausdruck, dass eine andersgläubige Frau zunächst als Ein-Euro-Jobberin in einer diakonischen Einrichtung putzen darf. Als es aber um eine Festanstellung geht, heißt es, das sei nicht möglich, weil alle Mitarbeiter die Werte und Ziele des Unternehmens zu teilen hätten.

Brisant wird es auch, wenn sich im Dienst der Kirchen Arbeitende im privaten Leben anders verhalten, als es die Kirchen gerne sähen. Wenn ein Arbeitnehmer der Diakonie sein grundgesetzlich verankertes Recht auf Religionsfreiheit geltend macht und aus der evangelischen Kirche austritt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er seinen Arbeitsplatz verliert.

Die katholische Kirche geht bei der Kontrolle der bei ihr angestellten Menschen noch darüber hinaus. So führen dort beispielsweise das Bekennen zur eigenen Homosexualität oder das Zusammenziehen mit einem neuen Partner nach gescheiterter Ehe zur Kündigung.

In der Veranstaltung wurde aufgezeigt, dass die arbeitsbezogenen Sonderrechte der Kirchen auf einer Fehlinterpretation des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137, Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung beruhen. Die Kirchen leiten aus diesem Artikel ein Selbstbestimmungsrecht ab, was aber nur ein Selbstverwaltungs- und Selbstordnungsrecht ist, das sich überdies an die Schranken der für alle geltenden Gesetze zu halten hat.

Ingrid Matthäus-Maier wies in ihrem Vortrag auf einen besonderen Widerspruch zwischen dem Machtanspruch der Kirchen und deren geringen finanziellen Investitionen in die von ihnen betriebenen Einrichtungen hin: Konfessionelle Kindergärten werden nur zu fünf bis zehn Prozent von den Kirchen finanziert. Zum laufenden Betrieb von Seniorenheimen und Krankenhäusern steuern die Kirchen überhaupt kein eigenes Geld bei. Trotzdem beharren sie auf Sonderrechten, die ihnen bislang auch gewährt werden.

Angesichts der geringen finanziellen Beteiligung der Kirchen ist die Diskriminierung von Mitarbeitenden und potenziellen Nutzern, wie beispielsweise konfessionslosen Kindern, denen die Nutzung der kirchlich getragenen Einrichtungen teilweise verwehrt wird, erst recht nicht hinzunehmen.

Georg Güttner-Meyer referierte zu den aktuellen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts zum Streikrecht bei Kirche, Caritas und Diakonie. Er verdeutlichte, dass die Frage, wer diese Prozesse gewonnen habe, derzeit nicht klar zu beantworten sei. Gewonnen sei jedenfalls Zeit, um mit dem Thema an die Öffentlichkeit zu gehen, bevor die Kirchen sich so anpassten, dass für sie wieder alles stimmig ist und sie im Endeffekt nichts wirklich zu verändern brauchen.
Für eine endgültige Bewertung muss die schriftliche Urteilsbegründung abgewartet werden. Derweil ist es wichtig, Arbeitnehmer in christlichen Einrichtungen für das Thema zu sensibilisieren und sie ggf. bei Protestaktionen zu unterstützen.

Im Anschluss an die Vorträge gab es die Möglichkeit zu Fragen und Wortmeldungen, sodass sich eine lebhafte Diskussion entspann.

Es wäre wünschenswert, wenn diese Veranstaltung der Auftakt zu weiteren gemeinsamen Veranstaltungen von RiR und ver.di gewesen wäre.

• 33 % der Schulen in NRW sind Konfessionsschulen, in denen Anders- und Nichtgläubige an entsprechenden Kulthandlungen teilnehmen sollen.
• 31 Millionen Menschen in Deutschland sind konfessionsfrei – wäre diese Gruppe eine Konfession, wäre sie die größte bundesweit.
• Trennung von Kirche und Staat ist in Deutschland nicht voll durchgesetzt.
• Bischöfe werden aus Steuergeldern bezahlt.
• Als Grund dient Entschädigung für Enteignung im Jahr 1803! (keine Rücksicht darauf, wie die Güter in die Hand der Kirche gekommen sind).

[Humanistischer Pressedienst, 30.11.2012 • Nr. 14503]

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