Fundstücke aus der Mottenkiste: Gedichte von 1960
Ich bereite gerade meinen Umzug vom Dach- ins Erdgeschoss vor und sortiere alles, was ich nicht mehr gebrauchen kann, aus. Unter alten, halb vergilbten Papieren lagen Gedichte, die ich vor 67 Jahren geschrieben habe. Ich hatte sie längst vergessen:
Furioso
Gesichte, Ahnungen zerfliegen.
Du stehst und sinnst. Hast du genug
Spiegel angeschwiegen
Und überschweigst auch diesen Spuk?
Gehe hin und weine!
Forme aus jedem Atemzug
Worte, bittere gemeine
und unberührbar zarte: Hauch und Schrei.
Schweigen ist nicht mehr klug.
Rede, rede wie zu einem Steine
und in den Wind – antworte und verzeih.
Schreibe die Todesformel auf Granit,
das Orakel, das sakrale,
das alte Schattenlied,
und beim allerletzten Bacchanale
zerbrich die Wasserschale
und trinke Aquavit
und Wein und Sekt
und Gift,
dann schreib. Noch bist du unerweckt.
Enthülle dich in deiner Schrift
und schreib, geblendet, taub, verwaist.
Schreib dir die Sinne leer, Organ
und Intellekt,
bis du dich heiser schreist
oder nun
flackernd ausgehöhlt im Wahn
Hoden und Gehirn zerreist –
Der Mensch hat sich in seinem Tun
vertan.
5. Mai 1960
* * *
Konversation
Sie sagte „Pi-ca-sso“
und noch einige Worte
tropften von ihren Lippen,
das geheimnisvolle Wort „NIHILISMUS“,
ein anderes: „RELATIVITÄT“, –
tropften
aus ihrem Muskelfleisch.
Sie hätte diese Perlen
beinahe verschluckt, –
tropften
von den feuchten Marmorlippen
der jungen, ahnungslosen Sphinx:
wie
der
Tau
in
den
Sand....
5. September 1960
* * *
Das Wort
Unter Menschen ist die Lüge das
Normale.
Gekicher hinter Fächern, irgendwas
Schlangiges, Gezüngel hinter Glas.
Geschriebenes und das Orale.
Nur der Gezeichnete, der Anormale,
der Dichter brach das Wort aus seiner Schale
und schob es lächelnd in den Mund und aß
und trug es schweigend fort zum Schattentale.
Seine Stimme wuchs ins Kolossale,
als er es widerrief
und sich vermaß,
er, der Zerbrechliche, Geniale,
sehr intensiv
die Henker anzulächeln face en face,
mit denen er beim Abendmahle
zu Tische saß.
Und jetzt: der Tod, der Immortale,
der Weggenosse, der ihn nie vergaß,
der ihn erhörte, ihn und sein Finale.
Und jetzt: das Wort, nur Stimme, nur Vokale –
sang es zuend, dann spuckte er`s ins Gras.
22. Mai 1960
* * *
Nachworte: Ein Dichter, was ist ein Dichter? Ein Selbstmordkandidat, einer, der auf dem schmalen Grad seiner Verszeilen der Wahrheit nachläuft.
© Dietrich Stahlbaum 1960
Kommentar heute, 19. Oktober 2017: Oha!
Und eine Frage. Soll ich das aufheben?
Dietrich, mach es wie ich: Solche Sachen habe ich beim letzten Umzug aus den Ordnern geholt und als Lesezeichen in div. Bücher gepackt > irgendwer wird sie später dort finden… etc.