DER KLEINE MANN - I - Kurzgeschichte
Der kleine, arbeitslose Mann
...ging über die Wälle der Stadt. Am Grafenwall begegnete ihm ein
junger, vollbärtiger Mensch. Der begrüßte ihn und nannte ihn beim
Vornamen. Freundlich erwiderte der kleine, arbeitslose Mann den Gruß
und ging zum Kurfürstenwall. Der junge, vollbärtige Mensch ist Mitglied
der SPD. Beobachtet hatte diesen Vorgang ein Mitglied der CDU.
Am Kurfürstenwall begegnete dem kleinen, arbeitslosen Mann ein
alter, weißhaariger Herr, der an einem Krückstock ging. Ihm gab der
kleine, arbeitslose Mann die Hand, nannte ihn beim Vornamen und
sprach mit ihm. Sie verabschiedeten sich, und der kleine, arbeitslose
Mann ging zum Herzogswall. Der alte, weißhaarige Herr, der an einem
Krückstock ging, ist jahrelang im KZ gewesen. Er ist heute Mitglied
der DKP. Diesen Vorgang am Kurfürstenwall hatte ein ehemaliger
Jungsozialist beobachtet.
Am Herzogswall begegnete dem kleinen, arbeitslosen Mann ein junger
Mensch mit langen Haaren. Sie begrüßten sich und nannten sich beim
Vornamen. Lachend verabschiedete sich der kleine, arbeitslose Mann
und ging zum Königswall. Der junge, langhaarige Mensch ist Mitglied
der KPD/ML. Diesen Vorgang am Herzogswall aber hatte ein Mitglied
der DKP beobachtet.
Am Königswall begegnete dem kleinen, arbeitslosen Mann eine junge
Frau mit einer großen Sonnenblume auf einer Jutetasche. Sie umarmten
sich, sprachen miteinander und verabschiedeten sich. Der kleine,
arbeitslose Mann ging zum Kaiserwall.
Am Kaiserwall erreichte ihn ein anderer kleiner Mann, der diesen Vorgang
beobachtet hatte. Der andere kleine Mann trug eine Mütze auf dem Kopf
und war ihm nachgelaufen.
Sie begrüßten sich, und der kleine Mann mit der Mütze auf dem Kopf
sagte zu dem kleinen, arbeitslosen Mann ohne Mütze: „Ah, du bist
jetzt bei den Grünen?!“
Lächelnd antwortete der kleine, arbeitslose Mann, der ohne Mütze:
„Nein, ich bin in der Frauenbewegung.“
Ein paar Tage später beobachtete ihn der andere kleine Mann, der
mit der Mütze, am Lohtor. Er sah, wie der kleine, arbeitslose Mann
Plakatstellwände und einen schweren Bücherkarton aus einem Auto
hob und wie zwei Frauen ihm dabei halfen, und er sah, wie sie zu dritt
die Plakatstellwände und den Bücherkarton ins Frauenzentrum trugen.
Nach einigen Wochen saß der kleine, arbeitslose Mann, diesmal mit
einer Mütze in der Hand, vor einem Beamten, der ihn einstellen wollte.
Der Beamte, ein sehr freundlicher Mensch, fragte den kleinen,
arbeitslosen Mann dieses und jenes und kam schließlich zum Kern
seiner Befürchtungen.
„Ich habe gehört“, sagte der freundliche Beamte, „vielleicht sind es ja
nur Gerüchte: Sie sind in der DKP. Es wird auch gesagt, Sie sind in der
KPD/ML. Ich kenne Sie ja schon ganz gut; aber ich möchte mich
noch einmal vergewissern, dass wir da keine Überraschungen...“
Der kleine, arbeitslose Mann drehte, während er aufmerksam zuhörte,
seine Mütze in den Händen. Als der freundliche Beamte, ohne seinen
Satz zu beenden, schwieg, ihn ansah und in seinem Gesicht die Antwort
suchte, sagte der kleine, arbeitslose Mann mit der Mütze in den Händen:
„Wissen Sie, es gibt Leute, die haben Schubladen in ihrem Kopf. Sonst
passiert darin nicht viel in solchen Köpfen. Ich will Ihnen mal eine
wahre Geschichte erzählen“, und er erzählte den Teil dieser Geschichte,
den der freundliche Beamte wahrscheinlich noch nicht kannte.
(1979)
[Aus: Dietrich Stahlbaum: Der kleine Mann. Geschichten, Satiren, Reportagen aus sechs Jahrzehnten. Ein Lesebuch, Recklinghausen 2005, S.7]