Das zurückgegebene Schwert
Das zurückgegebene Schwert
Hanoi 1952. Die Vietnamesin Lai erzählt einem deutschen Fremdenlegionär eine Legende aus ihrem Land:
"Da ist der Ho Hoan Kiem! ...der See des Zurückgegebenen Schwertes. Bist du da schon gewesen, Renard?"
"Wir haben hier vor ein paar Tagen am Ufer gesessen, Miros und ich. Ein Strichjunge präsentierte uns seinen nackten Hintern. Wir haben ihn weggejagt. Die Päderastie ist in der Kolonialarmee gang und gäbe."
"Die Kolonisten haben zuerst den Alkohol und das Opium gebracht, dann Hunger und Tod. Den Bauern haben sie das Land weggenommen und sie zu Kulis gemacht. Zigtausende starben. Nun treibt die Misere sogar Kinder in die Prostitution.
Vietnam hat schon vieles erduldet. Seit zweitausend Jahren versuchen fremde Herren, mein Volk zu unterwerfen. Es ist ihnen nie ganz gelungen. Es kamen auch immer wieder Eindringlinge aus dem Norden: Chinesen, Mongolen, dann wieder Chinesen. Hundert Jahre vor eurer Zeitrechnung begann die Han-Dynastie, sich über Asien auszubreiten. Vietnam wurde eine chinesische Provinz und blieb es tausend Jahre lang. Kennst du die Geschichte des zurückgegebenen Schwertes, die Geschichte dieses Sees?"
"Nein, erzähle sie!"
Wir setzen uns auf eine Bank am Ufer gegenüber der kleinen Insel, auf der ein Tempel steht.
"Das ist der Schildkrötentempel", sagt Lai. "Der Ho Hoan Kiem war vor hundert Jahren viel größer als heute und mit allen anderen Seen der Stadt verbunden. Bei Hochwasser strömte der Rote Fluß in ihn hinein. Vor fünfhundert Jahren war Hanoi wieder einmal unter chinesischer Herrschaft, und gegen sie kämpfte Le Loi mit seinen Partisanen. Er kämpfte zehn Jahre lang vergeblich. Schließlich bat er den Himmel um Hilfe. Da tauchte aus dem See eine goldene Schildkröte auf. Jeder wußte, daß es sie gab, obwohl noch niemand sie gesehen hatte. Sie überreichte Le Loi ein Schwert, das aus einem Blitz geschmiedet war. Mit diesem Schwert besiegte er die Besatzer. Er brachte das Schwert zurück und dankte der Schildkröte mit einer tiefen, stillen Verbeugung. Sie nahm das Schwert entgegen und verschwand wieder im See. Le Loi wurde Kaiser und ließ diesen Tempel bauen, den Tempel der Goldenen Schildkröte."
[Aus: Dietrich Stahlbaum: Der Ritt auf dem Ochsen oder Auch Moskitos töten wir nicht]