Türchen 17 meines Adventskalenders öffnet sich für euch....
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Das vergessene Weihnachten
Herbert saß entspannt in seinem Sessel und las Zeitung. Es klopfte und ein Mädchen stürmte herein. „Opa, Opa! In einem Monat ist Weihnachten. Freust du dich darauf auch so wie ich?“ Herbert starrte das Mädchen entgeistert an. „Wer bist du denn? Und wer oder was ist Weihnachten?“ Dem Mädchen war mittlerweile eine blonde Frau ins Zimmer gefolgt. Diese legte tröstend die Arme um dieses, als sie sah, dass sich deren Augen mit Tränen füllten und sagte: „Sei nicht traurig, Melissa. Du weißt doch, dass Opa krank ist und wir für ihn mittlerweile Unbekannte sind. Das ist schlimm, aber wir sind immer noch seine Familie, auch wenn er das vergessen hat. Genau deswegen ist es wichtig, ihn so oft wie möglich zu besuchen, um vielleicht doch wieder Erinnerungen bei ihm wachzurufen.“
„Ja, aber Mama, wie kann er denn Weihnachten vergessen? Ich weiß noch, dass er mit mir als ich kleiner war immer den Weihnachtsbaum geschmückt hat und Weihnachtslieder gesungen hat. Er mochte die Weihnachtszeit so und das weiß er nicht mehr? Ich verstehe das nicht.“
„Melissa, die Demenz ist dafür veranwortlich, Das ist schwer zu verstehen, aber leider führt diese Krankheit dazu, dass die Erkrankten immer mehr vergessen. Aber glaube mir, tief in Opas Herzen sind wir und Weihnachten noch da. Und auch wenn er sich nicht erinnert, so können wir mit Opa gemeinsam doch ein schönes Weihnachtsfest erleben.“
Herbert meldete sich wieder zu Wort. „Wer sind Sie und was haben Sie in meinem Zimmer zu suchen?“
„Papa, ich bin es. Deine Tochter Sonja und das ist deine Enkelin Melissa. Dort an der Wand hängt ein Foto, wo du mit uns beiden zu sehen bist. Schau mal, ich habe dir dein Lieblingssportmagazin mitgebracht.“
„Sonja und Melissa? An meine Familie würde ich mich doch erinnern. Das Foto hing gestern ganz bestimmt noch nicht da! Aber das Sportmagazin nehme ich gerne. Steht da auch was über Fußball drin?“ Herbert nahm die Zeitung und blätterte die Seiten durch. Er wurde ruhig und schien in seine eigene Welt zu versinken. Sonja und Melissa setzten sich neben ihn und erzählten ihm Neuigkeiten. Außer einem gelegentlichem Nicken kam jedoch keine Reaktion. Nach einer Weile verabschiedeten sie sich und verließen das Pflegeheim, in dem Herbert wohnte.
Doch Melissa ließ es keine Ruhe, dass ihr Opa Weihnachten vergessen hatte. Sie malte ihm Weihnachtsbilder und bastelte Sterne, die sie in seinem Zimmer im Pflegeheim aufhängte. Doch Herbert wusste damit nichts anzufangen. In seiner Welt gab es scheinbar kein Weihnachten mehr. Melissa war darüber sehr traurig, denn sie hatte so viele schöne Erlebnisse mit ihrem Opa gehabt, auch und gerade zur Weihnachtszeit. Und wenn er sie schon nicht mehr erkannte, so war bisher das Weihnachtsfest immer noch eine Verbindung zwischen ihnen gewesen, die nun wohl auch endgültig abgerissen war.
Auch für Sonja, Herberts Tochter, war die Demenzerkrankung ihres Vaters sehr schmerzhaft. Die Persönlichkeit ihres Vaters schwand mehr und mehr und dass er sie nicht mehr erkannte, tat ganz schön weh. Nichtsdestotrotz mussten sie alle mit der Situation irgendwie umgehen. Sonja, ihr Mann und Melissa beschlossen ihren Vater an Heiligabend für ein paar Stunden zu sich zu holen.
Am 24. Dezember betraten sie alle das Pflegeheim. Es war weihnachtlich geschmückt und viele Heimbewohner grüßten sie mit leuchtenden Gesichtern, weil sie sich auf ein schönes Weihnachtsfest bei ihrer Familie oder auch auf die Weihnachtsfeier im Heim freuten. Ganz anders Herbert, den sie erst mit freundlichem Nachdruck überzeugen mussten mit ihnen zu kommen. Wer geht auch schon mit für ihn fremden Menschen einfach so mit?
Die Aussicht auf einen schönen Spaziergang lockte ihn schließlich. Er war schon immer gerne an der frischen Luft gewesen und das hatte sich bis heute nicht geändert. So schlenderten alle zu Fuß zum Haus der Familie. Lichterketten beleuchteten das Gebäude und Herbert fragte staunend: „Wieso sind die ganzen Lichter am Haus?“
„Opa, es ist Weihnachten. Kerzen und Lichter schmücken zu dieser Zeit viele Wohnungen und Häuser“, sagte Melissa.
Sie traten ein und gingen ins Wohnzimmer. Dort stand ein festlich geschmückter Weihnachtsbaum. „Ein Baum mitten im Zimmer? Und dann noch so kitschig behangen? Was soll das denn? Spinnt ihr?“, rief Herbert. Sonja, ihr Mann und Melissa schluckten. Sie hatten sich soviel Mühe gegeben und gehofft, dass der Weihnachtsbaum schöne Erinnerungen bei Herbert wecken und ihm gefallen würde. Die Weihnachtsstimmung schien verflogen.
Nun gab es leckeres Essen, das Herbert ohne Worte in sich hineinschaufelte. Dann wollte er zurück in sein Zimmer im Pflegeheim. Heiligabend schien zum Desaster zu werden....
Aber die Bescherung wollten sie nun doch noch mit ihm gemeinsam erleben. Doch Herbert wollte nicht. „Bescherung? Was ist das? Ich will keine Bescherung. Ich will in mein Zimmer und lesen. Lasst mich endlich mit eurem blöden Weihnachten in Ruhe!“
Melissa rannen Tränen die Wangen hinunter. Das war das schlimmste Weihnachtsfest, das sie bisher erlebt hatte. Um sich und auch ihre Eltern aufzumuntern fing sie an zu singen:“ Alle Jahre wieder kommt das Christuskind....“ Herbert stutzte, rieb sich die Stirn, lächelte und sang mit: „...auf die Erde nieder....“ Er sang gemeinsam mit Melissa alle Strophen des Liedes. Am Ende sagte er gerührt: „Melissa, mein Schatz. Du hast ganz toll gesungen und mir damit eine große Freude gemacht.“ Er nahm Melissa in den Arm und drückte sie ganz fest. Danach umarmte er Sonja und ihren Mann und trug spontan noch das Gedicht „Denkt euch, ich habe das Christkind gesehen“ vor. Sonja, Melissa und ihr Mann waren überwältigt. Herbert hatte sich erinnert und war für diesen kurzen Moment wieder ganz der alte Opa und Vater. Doch mit einem Mal erstarrte Herberts Gesicht und er rief: „Bringt mich nach Hause! Ich ertrage den Anblick dieser häßlichen Tanne nicht mehr!“
Doch diesmal machten seine harten Worte seiner Familie nichts mehr aus. Denn sie wußten, dass Herbert im Herzen weder sie, noch Weihnachten vergessen hatte. Sie hatten gerade ein Weihnachtswunder erlebt und das schönste Geschenk überhaupt von Herbert erhalten. Die Hoffnung, dass die Krankheit Demenz letztendlich die Liebe nicht auslöschen kann.
(Anja Fiedler)
Danke, Peter. Demenz ist wirklich schlimm, auch und gerade für die Angehörigen....