aus einem Volkschul-Lesebuch von 1896; Der Löwenzahn oder die Kettenblume
1. Alle Kinder pflücken gern auf dem grünen Anger die weißen, wolligen Köpfchen des Löwenzahns ab, die auf glatten, runden Stielen hervorschauen. Sie blasen die Laternen aus, wie sie es nennen, und werfen die kahlen Stümpfe weg, oder machen sich Ketten aus den hohlen Blütenstielen. Die vielen Samenkörnchen fliegen aber nach allen Seiten hin. Jedes hat ein feines Stielchen und oben einen zarten, weißen Federkranz. So ziehen sie weithin durch die Luft. Die Blüte war ihr Vaterhaus; jetzt geht die Reise fort durch alle Welt. Die einen lassen sich auf der Wiese, die anderen am Wege nieder; jene ziehen sogar über den breiten Fluß, steigen heimlich über den Zaun und schlüpfen in den verschlossenen Garten. Noch andere bleiben auf der Mauer sitzen oder siedeln sich auf den Straßen und Plätzen des Dorfes oder Städtchens an.
2. Was thut das Samenkörnchen, wenn seine Reise zu Ende ist? Das braune Körnchen ist mit zarten Widerhaken besetzt; mit denen haftet es in der Erde. Bald wächst unten am Boden ein Kranz von grünen Blättern, die wie die Strahlen eines Sternes rund im Kreise umherstehen. Jedes dieser Blätter ist lang und schmal, an beiden Seiten eingeschnitten und mit großen Zähnen versehen. Davon hat das Pflänzchen auch den Namen Löwenzahn erhalten, nur sind die Zähne weich und unschädlich. Zur goldenen Blüte führt ein runder, glatter Stiel hinauf. Nur schade, daß der weiße Saft, der beim Abbrechen herauströpfelt, klebrig ist und Flecken in den Kleidern verursacht. -
Die Blume des Löwenzahns ist wohl aus Hunderten von kleinen Blüten zusammengesetzt. Sie ist eine wahre Blütenstadt. Eine doppelte, grüne Mauer umgiebt sie, nämlich der innere, anliegende Kelch und zahlreiche zurückgeschlagene Blättchen, die den äußeren Kelch bilden. Der weiße Blütenboden ist das Straßenpflaster; er ist wie von feinen Porzellan. Die einzelnen Blüten sind die Häuser; sie sehen aus, als wären sie aus puren Golde gefertigt. Käferlein und Bienen vergnügen sich in dieser goldenen, honigreichen Stadt. Aber nur bei schönen Wetter sind die Thore derselben geöffnet; bei Regen und in der Nacht werden sie sorgsam verschlossen. Dann findet wohl zuweilen eine kleine Fliege ihr sicheres Nachtquartier darin und verläßt die gastfreundliche Stadt erst am Morgen nach süßem Schmause.
3.In solcher Blüte wachsen tausend kleine Samenkörnchen, gerade wie das erste, aus dem die ganze Blume geworden ist. Jedes streckt einen feinen Stiel nach oben; auf diesem steht eine Federkrone, ein Schmuck und zugleich ein Flügel. Die gelben Blüten fallen ab, und wieder steht ein Wollkopf da, von dem tausend Samenkörner zu neuen Pflänzchen auf die Reise gehen. Der Hirt sieht den Löwenzahn gern;denn er ist für sein Vieh treffliches Futter. Er nennt ihn deshalb wohl auch Kuhblume. Tausende von solchen Pflanzen gelangen in den Leib der Kühe, und die bittere Milch in den Blättern und Stengeln wird hier zu fetter, süßer Milch. Sie giebt schöne Butter und guten Käse. Im Mai ist schon manches Kind hinausgegangen auf die Wiese mit einem Körbchen und einem Messer. Es gräbt die Kuhblume mit den Wurzeln aus, die sich tief in den Boden strecken. Daheim werden aus der Wurzel bittre Tropfen gepreßt, welche die arme Mutter von der bösen Krankheit befreien, die ihre Wangen bleichte.
Wagner
Schöner Beitrag über den Löwenzahn!
Ja, leider ist für viele Menschen der Löwenzahn ein Unkraut, weil sie nicht wissen, wie gesund diese Pflanze ist.
Solche Geschichten stehen heute leider in keinem aktuellen Lesebuch mehr.