NachDenkSeiten stellen "Systemfrage"
Die Redaktion der NachDenkSeiten stellte am 16.12.2019 einen Artikel mit dem Titel "Systemänderung – was ist das? Wie soll das neue System aussehen?" online. Der Einführungstext lautet:
Die Redaktion der NachDenkSeiten erreichen des Öfteren Mails mit zurecht sehr kritischen Bemerkungen zu den jetzigen Zuständen. Die Leseräußerungen enden dann oft im Stoßseufzer: Ohne Systemänderung gehts nicht! In Bezug auf dringliche aktuelle Probleme heißt es in der Ankündigung eines neu erschienenen Buches: „Ohne Systemwandel werden Umweltzerstörung und Klimawandel nicht aufzuhalten sein.“. Manche Leser ermahnen uns , wir sollten uns keine Mühe geben mit unseren Verbesserungsvorschlägen. Ohne ein anderes System sei alles zwecklos. Mit diesen Einlassungen können wir leider in der Regel nichts anfangen …(Den vollständigen Text finden sie hier)
Aus dem Einführungstext wird klar, dass die Redaktion der NachDenkseiten mit Begriffen wie "System" oder "Systemänderung" bei der Kritik der real existierenden Verhältnisse unserer derzeitigen Gesellschaftsordnung wenig bis nichts anfangen kann.
Mit dem folgenden Leserbrief versuche ich der Redaktion auf die Sprünge zu helfen:
Verehrtes Team der NachDenkSeiten,
Sie schreiben:
»… wenn die Forderung nach Systemwandel nicht wenigstens mit dem Versuch gekoppelt ist, zu beschreiben, wie das andere System aussehen soll, und d. h. eigentlich auch zu beschreiben, wie das jetzige (angebliche) „System“ definiert ist, und durch welchen Wandel das neue System ein neues System werden soll, was im neuen System anders sein soll.«
Wikipedia schreibt unter dem Stichwort Gesellschaftssystem: »Unter den Begriffen Gesellschaftsformation, Gesellschaftsform oder Gesellschaftssystem versteht man in der Soziologie, Politik- und Geschichtswissenschaft die historisch bedingte Struktur und soziale Organisationsform von Gesellschaften. Der vor allem von Karl Marx geprägte Begriff der Gesellschaftsformation umfasst dabei die Gesamtheit aller sozialen Verhältnisse, die eine bestimmte Gesellschaftsform von einer anderen Gesellschaftsform unterscheiden.«
Unser derzeitig existierendes Gesellschaftssystem nennen wir Kapitalismus. Viele Menschen wollen „den Kapitalismus“ überwinden, ohne zu benennen, was denn genau an der heutigen sozialen Organisationsform „aufzuheben“ oder „zu überwinden“ ist.
Der Alt- und Großmeister der Gesellschaftskritik beginnt seine „Kritik der politischen Ökonomie“ mit diesen Sätzen:
»Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine „ungeheure Warensammlung", die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.« Ausgehend von der Analyse einer einzelnen Ware beschreibt und entfaltet Marx die „gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus in Ihrem idealen Durchschnitt“ oder in seinen eigenen Worten in einem Brief an Lasalle: »Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben.«
Leider haben vor allem die Marxisten der Arbeiterbewegung verhindert, dass sich diese Arbeit als „das furchtbarste Missile, das den Bürgern (Grundeigentümer eingeschlossen) noch an den Kopf geschleudert worden ist“ (Marx in einem Brief an J.Ph.Becker, 17.4.1867) erweisen konnte. Anstatt das „Kapital“ als Kritik an den Basiskategorien des Kapitalismus Ware, Wert, Geld und Lohnarbeit zu lesen (wie in der Wertkritik) und daraus Konsequenzen für die gesellschaftliche Organisation zu ziehen, haben sie das „Kapital“ als bessere, marxistische politische Ökonomie missverstanden.
Was ist der Kern des Missverständnisses? Der Kern besteht darin, dass Marx herausarbeitete, dass eine Befriedigung der gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnisse durch Produkte in der Warenform notwendigerweise zu fatalen Konsequenzen führen muss.
Vereinfacht gesagt: Ein Unternehmen interessiert sich in seiner Bilanz nicht dafür, welche Bedürfnisse mit den einzelnen Bilanzposten erfüllt worden sind, sondern einzig dafür, dass die Differenz zwischen den in Geld ausgedrückten Werten auf der Aktivseite und den in Geld ausgedrückten Werten auf der Passivseite jedes Jahr möglichst groß ausfällt. Oder anders ausgedrückt: In den unternehmerischen Entscheidungen spielt es keine – oder nur eine untergeordnete - Rolle, ob konkreter Reichtum in Form von Hosen, Hemden, Wohnungen, Nahrung, Pflegeleistungen, Vorlesungen oder anderen nützlichen Dingen produziert wird, sondern es spielt nur eine Rolle, dass der abstrakte Reichtum in Form von Geldeinheiten stets vergrößert wird.
Die bürgerliche Ökonomie hat bis heute keinen Schimmer, dass dem Wert, als der herrschenden Form des Reichtums im Kapitalismus, der stoffliche Reichtum gegenübersteht, auf dessen besondere Gestalt es für die Kapitalverwertung zwar nicht ankommt, der jedoch als Träger des Werts unverzichtbar bleibt.
Diese beiden Reichtumsformen treten nun aber mit wachsender Produktivität notwendig und in einer Weise auseinander, die Marx vom Kapital als dem”prozessierenden Widerspruch“ sprechen ließ. In der Mainstream-VWL kommt „Geld“ in der Theorie nicht einmal vor.
So lange sich die „progressiven Kräfte“ mit diesen Widersprüchen von Stoff und Form nicht einmal theoretisch auseinandersetzen wollen oder können, so lange werden praktische Fortschritte auf dem Weg zu einer humanen Gesellschaft illusionär bleiben.
Fürchte ich.
Wie sagte Marie von Ebner-Eschenbach einst so schön: Je kleiner das Sandkörnlein ist, desto sicherer hält es sich für den Mittelpunkt der Welt.