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Esther Bejarano: Offener Brief zum 27. Januar

Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Soldaten das Vernichtungslager Auschwitz im besetzten Polen. Die Generation der Opfer in jener Zeit – wie auch der Täter – stirbt aus und mit ihr die persönlichen Bezüge zu diesem Abschnitt der deutschen Geschichte. An jedem Jahrestag der Auschwitz-Befreiung gibt es weniger Überlebende, die ihre Erfahrungen weitergeben können.

Im Januar 1996 richtete sich der damalige Bundespräsident Roman Herzog daher mit einem klaren Appell an die Deutschen: "Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen." Mit diesen Worten erklärte Herzog den 27. Januar zum zentralen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus.

Esther Bejarano, Überlebende der KZ Auschwitz und Ravensbrück, nimmt den diesjährigen Jahrestag zum Anlass, einen offenen Brief an die Regierung und die Öffentlichkeit in Deutschland zu schreiben, um ihrer Sorge über gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland Ausdruck zu verleihen. Hier der offene Brief:

Offener Brief an die Regierenden und alle Menschen, die aus der Geschichte lernen wollen

Erstellt am 26. Januar 2020

Dass Auschwitz nie wieder sei – und dieses Land sich ändern muss

Falls man dem Menschen die Möglichkeit geben will, aus der Geschichte zu lernen, wäre die erste Voraussetzung, dass er sich dieser Geschichte erinnert. Aber leider vergisst er so leicht, und oft vergisst er gerade die entscheidenden Lektionen.
(Lukas Bärfuss, Büchner-Preis-Rede 2019)

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin 
und alle, die wollen, dass Auschwitz nie wieder sei!

Wo stehen wir – dieses Land, diese Gesellschaft – 75 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee?

Plötzlich gab es keine Nazis mehr, damals, 1945 – alle waren verschwunden. Uns aber hat Auschwitz nicht verlassen. Die Gesichter der Todgeweihten, die in die Gaskammern getrieben wurden, die Gerüche blieben, die Bilder, immer den Tod vor Augen, die Albträume in den Nächten. 

Wir haben das große Schweigen nach 1945 erlebt – und wie das Unrecht – das mörderische NS-Unrecht – so akzeptiert wurde. Dann erlebten wir, wie Nazi-Verbrecher davonkommen konnten – als Richter, Lehrer, Beamte im Staatsapparat und in der Regie­rung Adenauer. Wir lernten schnell: die Nazis waren gar nicht weg. 

Die Menschen trauerten um Verlorenes: um geliebte Menschen, um geliebte Orte. Wer aber dachte über die Ursachen dieser Verluste nach, fragte, warum Häuser, Städte, ganze Landstriche verwüstet und zerstört waren, überall in Europa? Wen machten sie verantwortlich für Hunger, Not und Tod?

Dann brach die Eiszeit herein, der Kalte Krieg, der Antikommunismus. Es war ein langer Weg vom kollektiven Beschweigen bis zum Eichmann-Prozess in Jerusalem über die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main zu den Studentenprotesten in den 1968ern hin zur Fernsehserie “Holocaust” ab 1979. Nur zögerlich entwickelte sich das Bewusstsein, die Wahrnehmung des NS-Unrechts. Aber auch die Rechten, die Alt- und Neonazis und Auschwitzleugner formierten sich.

Inzwischen wird vom Erinnern und Gedenken als einer Gedenkkultur gesprochen. Wir spüren, wie tief viele Menschen bewegt sind, manche haben sich das “Nie wieder” zur Lebensaufgabe gemacht. 

Sonntagsreden, die Betroffenheit zeigen, reichen aber nicht. Diese Betroffenheit muss zum Handeln führen, es muss gefragt werde, wie es so weit hat kommen können. Es muss gestritten werden für eine andere, bessere Gesellschaft ohne Diskriminierung, Verfolgung, Antisemitismus, Antiziganis­mus, ohne Ausländerhass! Nicht nur an Gedenktagen!

Sie, Frau Bundeskanzlerin Merkel haben am 6. Dezember 2019 in der Gedenkstätte KZ Auschwitz-Birkenau gesagt: “Umso klarer und deutlicher müssen wir bekunden: Wir dulden keinen Antisemitismus. […] Alle Menschen müssen sich bei uns in Deutschland, in Europa, sicher und zu Hause fühlen. […] Einen Schlussstrich kann es nicht geben – und auch keine Relativierung.” Diese Aufgabe ist noch nicht erledigt! Und ich füge hinzu: Das sind wir den Millionen Opfern der faschistischen Verbrechen schuldig!

Es ist für uns Überlebende unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren. Wir wollen uns nicht gewöhnen an Meldungen über antisemitische, rassistische und menschenfeindliche Attacken in Berlin und anderswo, in Halle, wo nur stabile Türen die jüdische Gemeinde schützten, aber zwei Menschen ermordet wurden. 

Was können wir tun?

Ich will, dass wir alle aufstehen, wenn Jüdinnen und Juden, wenn Roma oder Sinti, wenn Geflüchtete, wenn Menschen rassistisch beleidigt oder angegriffen werden! 

Ich will, dass ein lautes “Nein” gesagt wird zu Kriegen, zum Waffenhandel. Wer den letzten Krieg vergisst, der bereitet schon den nächsten vor. 

Ich will, dass wir gegen die Ausbeutung der Menschen und unseres Planeten kämpfen, Hilfesuchende solidarisch unterstützen und Geflüchtete aus Seenot retten. Eine Gesellschaft muss sich messen lassen an ihrem Umgang mit den Schwächsten. 

Ich fordere entschlossenes Handeln gegen das Treiben der Neonazis, denn trotz Grundgesetz und alledem konnten Abgeordnete einer neurechten Partei vom NS als “Vogelschiss in deutscher Geschichte” und vom Holocaust-Gedenkort in Berlin als “Denkmal der Schande” sprechen, konnte der NSU ein Jahrzehnt lang ungestört morden und die Neonazi-Gruppe “Combat 18” frei agieren. 

Ich fordere, dass die Diffamierung von Menschen und Organisationen aufhört, die entschlossen gegen rechts handeln. Was ist gemeinnütziger als Antifaschismus? Es ist auch unerträglich, wenn ein paar Antifa-Aufkleber in Schulen Anlass für Denunziationen über Petzportale von neurechten Parteien sind. Niemand sollte für antifaschistisches Handeln, für gemeinsame Aktionen gegen den Hass, gegen alte und neue Nazis diskreditiert und verfolgt werden!

Ich fordere: Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschla­gung des NS-Regimes. Wie viele andere aus den Konzentrationslagern wurde auch ich auf den Todesmarsch getrieben. Erst Anfang Mai wurden wir von amerikanischen und russischen Soldaten befreit. Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit. 

Und dann können wir, dann kann ein Bundespräsident vielleicht irgendwann sagen: Wir haben aus der Geschichte gelernt. Die Deutschen haben die entscheidende Lektion gelernt.

Mit freundlichen Grüßen
Esther Bejarano
(Vorsitzende) Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland e.V.

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13 Kommentare

»Die DDR war natürlich ein Vorzeigestaat«

Liebe Barbara, das behauptet doch (fast) kein Mensch.

Aber hast du Dich schon einmal gefragt, weshalb sogar manche Menschen, die in der DDR aus politischen Gründen im Knast saßen - zum Beispiel Peter Sodann - sich mit der real existierenden Wirklichkeit in unserem Land nicht abfinden können und wollen? Und weshalb viele derjenigen, die im Herbst 1989 in der DDR auf die Straße gingen, eben keinen Anschluss an die Bundesrepublik wollten, sondern die DDR hin zu einem tatsächlich demokratischen und sozialistischen Staat verändern wollten - genauso wie es im Prager Frühling 1968 ebenfalls versucht und von den Armeen der "Bruderstaaten" durch den Einmarsch verhindert wurden.

»Im Kapitalismus ist jeder für sich selbst verantwortlich, im Sozialismus oder Kommunismus wird einem die Verantwortung und das Denken abgenommen«

Das ist Deine Meinung, die ich nicht teile, und dennoch akzeptiere. Vielleicht schaust Du Dir dennoch meinen Kommentar vom 29.01.2020 | 21:20 mal genauer an. Es ist der Schluss eines Artikels von Albert Einstein, der ja nicht gerade zu den größten Eseln zählte, die je auf dieser Erde grasten.

Der Artikel wurde erstmals 1949 in der ersten Ausgabe der New Yorker Zeitschrift Monthly Review unter dem Titel "Why Socialism" veröffentlicht. In dem Artikel erörtert Albert Einstein die schwierige Frage, wie die Tatsache, dass der Mensch gleichzeitig ein Einzel- und ein Sozialwesen ist, berücksichtigt werden kann, um das menschliche Leben so befriedigend wie möglich zu gestalten.

Und: Ich sag es noch einmal, obwohl die meisten Leser_innen mir dies nicht glauben werden, genau diese schwierige Frage beschäftigte auch Karl Marx.

Ein Letztes: Bist Du Dir sicher, dass im Kapitalismus jeder die volle Verantwortung für sich selber übernehmen kann? Von psychischen Phänomenen (Erkrankungen, Abhängigkeiten, verdrängtes Erleben usw. usw.) mal ganz abgesehen, wie willst Du die volle Verantwortung für Dein Leben vollständig übernehmen, wenn Du in jeder Lebenslage auf die Zusammenarbeit mit anderen Menschen angewiesen bist?

Die "Lebensmittel" (im weitesten Sinne), die für das Leben und Überleben notwendig sind, werden eben nicht von jedem einzelnen für sich selbst geschaffen und bereitgestellt, sondern werden arbeitsteilig erbracht. Und das hat Konsequenzen, die gewaltig sind.

Dazu morgen vielleicht mehr.

Da scheinst nicht nur Du etwas misszuverstehen, Hans-Joachim Zeller. Der Mensch ist ein soziales Wesen, aber kein sozialistisches. Zusammenarbeit ist immer nötig, es sei denn, Du hättest Dich dafür entschieden, irgendwo in der noch erhaltenen Natur als Eremit zu leben.

Zu dem Problem des Zusammenlebens und der Kooperation haben sich Denker schon lange vor Karl Marx Gedanken gemacht. Selbst in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung waren diese Gedanken eingeflossen: "We hold these truths for self-evident that all men are created equal…" (beruhend auf britischem Gedankengut).

Interdependenz in der Gesellschaft bedeutet nicht, dass der Mensch nicht in der Lage wäre, persönliche Entscheidungen zu treffen. Barbara hat vollkommen Recht, wenn sie auf ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik Deutschland verweist. Zumal gerade die sich selbst so bezeichnenden "Gelernten" Wert darauf legen, dass ihr ehemaliger Staat ihnen alles Wesentliche in ihrem Leben abgenommen habe.

Barbara, wie ich schon versuchte darzulegen: Es gibt Leute, die sehen und begreifen nicht den Unterschied zwischen 'sozial' (der Mensch ist ein soziales Wesen, wirkt gesellschaftlich zusammen) und 'sozialistisch' (was nur von bestimmten Menschen gesagt werden kann, die einer bestimmten Theorie anhängen, die selbst wieder aufgefächert ist, siehe auch 'nationalsozialistisch').

Und gut, dass Du auch dies noch zum Thema machst: Es gibt einen Unterschied zwischen staatlichem Unterstützen (für Bedürftige sorgen) und staatlichem Gängeln (bei dem dem Menschen die Entscheidungsfreiheit entzogen wird).

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