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Das Ungeheuer

Mitten in unserem Dorf gab es einst eine Firma, die Produkte an landwirtschaftliche Betriebe verkaufte. Saatgut und Düngemittel lagerten sie säckeweise in ihrem zweistöckigen Warendepot, das einer unscheinbaren Scheune glich. Nur die hölzerne Laderampe und der immens große Parkplatz davor, deuteten auf das Warenlager hin. In ihrem Innern, nur wenige Schritte hinter dem Eingangstor, stand ein Förderband, das nicht nur die Sackware in oder aus der ersten Etage beförderte, sondern auch manchmal Kinder. Wir hielten uns gerne in dem Schuppen auf. Die unzähligen Spinnenweben, die von den Decken herabhingen, der muffige Geruch und der Staub erweckten unsere Phantasie und machte unser Spiel zu einem Abenteuer. Fenster, die für Tageslicht in der Halle gesorgt hätten, gab es nicht, nur zwei veraltete, verdreckte Lampen beleuchteten den Innenraum. Darum öffnete der Lagermeister Herbert, kaum, dass er morgens seinen Dienst antrat, das große Schiebetor zur Laderampe. Danach hielt er sich zumeist in einem Nebengebäude auf, was uns die frühzeitige Eroberung des Schuppens ermöglichte. Unsere unbändige Neugierde, der wir beim Anblick des Förderbandes erlagen, tat ihr übriges. Die aberwitzigsten Pläne heckten wir darüber aus, was man alles mit der Maschine anstellen könnte. Und so kam der Tag, an dem wir die Säcke mit Getreide und Futtermitteln von der unteren Ebene auf die obere schaffen wollten, um sie dort zu einer Wehranlage aufzuschichten. Herbert durfte natürlich nichts davon mitbekommen, zu groß war unsere Furcht davor, er würde uns das Spielen in dem Schuppen verbieten.
Mithilfe der herumstehenden Sackkarren bugsierten Matthias und Gottfried die Säcke zum Förderband, während Manfred und ich sie oben in Empfang nahmen. Um ungestört hantieren zu können, hatten wir Regina überredet, den Job als Wachposten zu übernehmen.
Gottfried jedoch, schien einen düstere Vorahnung zu haben.
„Ich glaube nicht, dass Regina dafür die geeignete Person ist“, hatte er uns eindringlich gewarnt. Leider sollte er recht behalten, denn kaum, dass die ersten zehn Säcke auf dem Förderband nach oben gelangt waren, hörten wir sie laut schreien.
„Iiiiiiiiiiiiiiii! Hilfeeeee!“, hallte ihre schrille Stimme durch das Gebäude und riss abrupt ab. Wir schreckten auf, ließen alles stehen und liegen, und rannten hastig aus dem Schuppen. Niemand dachte daran nachzuschauen, was eigentlich geschehen war. Matthias und ich huschten hinter eine Hecke, während Gottfried und Manfred ein parkendes Auto als Versteck vorzogen. Es dauerte eine Weile, bis ich den Mut aufbrachte, meinen Kopf über die Hecke zu strecken. Niemand war zu sehen, weder Regina noch Herbert.
„Da muss was passiert sein!“, sagte ich aufgeregt zu Matthias und suchte sogleich den Blickkontakt zu Gottfried und Manfred. Durch Armwedeln, Grimassen schneiden und Herumgehopse versuchte ich, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Doch erst, als ich ein lautes „Hey!“ von mir gab, reagierte Manfred auf mich.
„Was ist?“, rief er herüber. Aus Furcht, Herbert herzulocken und mein Versteck preiszugeben, versuchte ich mich erneut in Zeichensprache, die jedoch nicht verstanden wurde.
Gottfried breitete zum Zeichen, dass er damit nichts anfangen konnte, die Arme aus. Anscheinend hatten die beiden schon einen Freiwilligen untereinander ausbaldowert, der in dem Schuppen nach dem Rechten sehen sollte. Gottfried deutete mir an, wieder in Deckung zu gehen, sprang blitzartig hinter dem Auto hervor und lief geduckt zum Schuppen hinüber.
„So ein alter Angeber“, raunte ich Manfred zu, während Gottfried sich durch das Tor schlich und in der Dunkelheit verschwand. Nachdem minutenlang nichts passierte, und nun auch noch Gottfried verschollen blieb, überkamen mich grausige Gedanken. Dass eventuell Herbert meine Spielkameraden erwischt hatte, schloss ich aus. Er wäre aus dem Nebengebäude gekommen, um mit uns zu schimpfen. Da aber alles ruhig blieb, schien er von allem nichts mitbekommen zu haben. Ich stierte zum Tor, und erfasste vor meinem geistigen Auge, die vielen düsteren Ecken und Verschläge, die sich im Schuppen befanden. Um sie hatten wir stets einen Bogen gemacht. Man konnte nie wissen, was sich darin verbarg. Ich dachte an eine Bestie, die vielleicht in dem riesigen Bau ihr Unwesen trieb. Es mochte gut sein, dass wir sie bisher nur noch nie bemerkt hatten. Das Vieh könnte die beiden dort hinein gezerrt und langsam verspeist haben. Eventuell würde ich meine Freunde nie wiedersehen, grauste es mich. Ein paar Knochen oder Kleidungsfetzen wären vielleicht alles, was man noch von ihnen finden würde. All diese Gedanken jagten mir noch mehr Angst ein, sodass ich nicht bemerkte, dass Manfred schon eine Weile neben mir stand.
„Wuuaaaaaah!“, schrie ich auf, als er mich anstupste.
„Du musst dir nicht gleich in die Hose machen“, machte er sich über mich lustig. Matthias fand das allem Anschein nach auch unterhaltsam und lachte ebenfalls.
„Blödmänner!“, brauste ich entrüstet auf.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Matthias, der gedanklich schon weiter war.
„Wir schauen nach“, sagte Manfred bestimmt. Auch wenn uns die Angst vor dem Ungewissen im Nacken saß, konnten wir unsere Freunde doch nicht im Stich lassen. So übernahm Manfred das Kommando und schlich vorweg.
Kaum, dass wir das Tor hinter uns gelassen hatten und am Förderband vorbei waren, polterte unter lautem Getöse das hölzerne Schiebetor ins Schloss. Urplötzlich sah ich in dem Halbdunkel meine Hand vor Augen nicht.
„Jetzt hu each oach!“, röhrte irgendwas hinter uns. Ich war vor Angst erstarrt, und konnte mich weder rühren, noch einen klaren Gedanken fassen und schon mal gar nicht wegrennen. Dann packte mich auch noch etwas von hinten am Kragen und zerrte an mir. In diesem Augenblick schloss ich mit meinem Leben ab. Ich fühlte den Atem der Bestie, in meinem Nacken. Gleich würde sie mich mit ihren scharfen, blutigen Zähnen zerfleischen, dachte ich noch, als das Ungeheuer anfing zu sprechen.
„So! Damit wäre die Truppe ja komplett um hier mal richtig Klarschiff zu machen. Eure Kameraden sind schon seit einer halben Stunde dabei, meinen Pausenraum zu wischen. Also, haltet euch ran!“, sprach es. Somit erklärte sich mir augenblicklich sowohl das Verschwinden von Gottfried, als auch das von Regina. Die Stimme gehörte keiner Bestie, sondern Herbert. Anscheinend hatte er uns von Anfang an beobachtet und Regina, kaum dass sie ihren Posten bezogen hatte, überrascht. Danach sperrte er sie in seinen Pausenraum und wartete ab.
Den halben Nachmittag durften wir zur Strafe das ganze Lager auf Vordermann bringen. Wir bugsierten die Säcke wieder an Ort und Stelle und mussten, weil es grade so schön passte, sogar noch bei einer größeren Warenlieferung mit anpacken. Herbert hatte dafür gesorgt, dass wir nie wieder in seinem Lager auf dumme Idee kamen. Als er uns endlich ziehen ließ, war ich heilfroh, noch ein Kind zu sein, denn eine solche Schufterei an jedem Tag, von morgens bis abends, hätte ich zu dieser Zeit niemals durchgestanden.

© Martin Stumpf Januar 2013
Quelle: Der heimliche Limes ISBN: 978-3-9814534-3-0

  • Blick auf die Mardorfer Kirche
  • hochgeladen von Martin Stumpf
  • Bild 1 / 2

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13 Kommentare

sehr gut geschrieben, sehr spannend.

Wahnsinn, das nenne ich mal einen Erfolg. Mein Buch "Der heimliche Limes" ist unter die besten 100 Buchneuerscheinungen im April auf lovelybooks gekommen. :-)

Glückwunsch!!!!!!!!

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