Straßenbahngeschichten aus Marburg 1 – Die Tiere mussten sich an die „Elektrische“ gewöhnen
Ab dem 28. November 1911 fuhr durch die Straßen der Stadt Marburg eine elektrische Straßenbahn, kurz „Elektrische“ genannt. Für die Bewohner der kleinen Universitätsstadt war dies ein besonderes Ereignis. Die Lokalpresse berichtete täglich über den Baufortschritt und die ersten Erlebnisse mit der neuen Bahn.
Dass die „Elektrische“ auch für die Marburger Tierwelt etwas völlig Neues war, wird aus mehreren Lokalnachrichten deutlich. Nicht nur der Mensch sondern auch die Tiere mussten sich auf das neue Verkehrsmittel einstellen – und lernen.
Das gelang nicht allen sofort. So berichtete die Oberhessische Zeitung, dass es am dritten Tag der Inbetriebnahme der Straßenbahn an der Kreuzung Universitätsstraße/Gutenbergstraße zu einem Unfall mit einer Taube gekommen war. Die Taube war nicht schnell genug dem neuen Verkehrmittel ausgewichen und überfahren worden. Der Redakteur vermutete, dass die Taube wohl von den beiden großen erleuchteten Augen der Straßenbahn geblendet worden sei und schloss den Bericht mit „sie war vorher stumm und nachher mausetot, als ihr die Straßenbahn den Kopf vom Rumpf trennte.“
Ernsthafter ging es aber schon wenig später zu als die Straßenbahn trotz lautem Bimmeln mehrere Hunde überfuhr, die sich wie üblich auf der Straße hingestreckt hatten und zufällig auf den Schienen lagen. Bis die „Elektrische“ auf ihren Schienen durch Marburg fuhr, muss es wie folgt zugegangen sein:
Die Hunde ruhten sich offensichtlich mal gerne mitten auf der Straße liegend aus. Wenn ein Pferdefuhrwerk vorbeikam, dann lenkte der Wagenführer entweder seine Pferde um den faul daliegenden Hund herum oder er scheuchte ihn mit seiner Peitsche fort.
Nun hatten offenbar die Hunde gedacht, mir der Straßenbahn ginge dies genauso. Vielleicht hatten sie auch beim gemächlichen Weggehen von den Schienen die Geschwindigkeit des neuen Verkehrsmittels unterschätzt. In den Akten der Straßenbahn-Direktion sind aus der ersten Zeit des Betriebs mehrere Beschwerdebriefe zu finden, in denen die Hundebesitzer die Straßenbahnführer für den Tod ihrer Hunde haftbar machen wollten: „Überfahren des Hundes von Herrn Sachs - Überfahren des Hundes von Herrn Fachinger.“
Die Direktion lehnte jeweils ab. Der Führer der Bahn hätten vorschriftsmäßig geklingelt und man hatte für die Vorfälle jeweils Zeugen bei der Hand.
Einen längeren Briefwechsel gab es mit dem stadtbekannten Kaufmann Louis Schäfer. Dessen Jagdhund, ein Gordon Setter, war ebenfalls unter die Straßenbahn geraten und getötet worden. Schäfer verlange 50 Goldmark von der Straßenbahn-Direktion. Diese lehnte ab, weil der Hund trotz Schellens unter die Räder geraten war. Auch ein angestrebtes Gerichtsurteil brachte für den Rassehund keinen Ersatz.
Schwierig war auch die Situation mit Pferden, die vor dem neuen und schnellen Verkehrsmittel oft scheuten. Mehrmals kamen Pferde zu Fall. Auch hier versuchten die Pferdehalter eine Entschädigung zu bekommen, wenn Waren von den Pferdewagen gefallen und zerbrochen waren – jeweils vergeblich
Der Hund „Peter“ liebte Straßenbahnfahren
Jahrzehnte später hatten sich alle an die „Elektrische“ gewöhnt. Eine Geschichte kann dies beweisen. Am Wehrdaer Weg lebte in der Lotze Mühle ein Hund namens „Peter“. Dieser liebte offenbar das Fahren mit der Straßenbahn.
Er machte sich alleine jeden Tag auf den Weg zur Haltestelle „Hauptpost“ in der Bahnhofstraße und sprang in die haltende Bahn. An der Endhaltestelle Gisselberger Straße verließ er die Bahn und kam nach geraumer Zeit zurück, um wieder die Straßenbahn zur Rückfahrt zu benutzen. Die Straßenbahnführer kannten ihn bald und wussten auch, wohin er gehörte – und ließen ihn in Ruhe im Wagen liegen.
An die Haltestelle „Hauptpost“ verließ der Hund die Bahn wieder und lief zurück in den Wehrdaer Weg. Vielleicht hatte „Peter“ eine Lebensgefährtin in Süden von Marburg. Den Grund für seine Straßenbahnfahrten konnte man nicht ermitteln. Aber er hatte die Fahrten sicherlich genossen.
Weitere Geschichten in: Die Marburger Straßenbahn (Autor: Karl-Heinz Gimbel), Marburg 2013
Leider gab es auch einen Unfall, bei dem einem zwölfjährigen Mädchen beide Beine oberhalb der Knie abgetrennt wurden, die Stadt bot ihr eine Lebensrente an oder, ersatzweise, eine einmalige Entschädigung. Leider entschied sich die Familie für letzteres. Das Geld ging in der Inflation verloren. Das Mädchen lernte, mit Prothesen zu gehen. Ich habe sie selbst noch gesehen, es muß in den Achtzigerjahren gewesen sein: sie ging ohne Stock!