Silvester in Köln: Kapitalismus im Kopf
Die Diskussion um die Übergriffe und Straftaten in der Silvesternacht in Köln schlägt in der Bundesrepublik hohe Wellen. Die Diskutant_innen führen eine vergiftete Diskussion. (Fast) Alle Teilnehmer_innen kochen ihr je eigenes Süppchen und nutzen die Straftaten und Übergriffe für ihre je eigenen Ziele. Antje Schrupp (Politikwissenschaftlerin, Journalistin, Publizistin und Feministin) schreibt in ihrem Blog:
»Die einen wissen, dass das diese Ausländer sind, vor denen sie schon immer gewarnt haben. Andere schreiben, Angela Merkel ist schuld, man sollte sie dafür hängen. Ganz Schlaue wissen, dass die Feministinnen schuld sind, weil sie zwar wegen harmlosen Witzen Aufschreie veranstalten, aber nicht wegen so was. Rechtsradikale Typen kündigen an, Busse zu organisieren, um nach Köln zu fahren und „weiße deutsche Frauen“ zu beschützen.
Es kotzt mich an, all das zu lesen, es kotzt mich an, dass die Sicherheit von uns Frauen immer und immer wieder instrumentalisiert wird. Ich hasse diese Scheinheiligkeit, mit der unser potenzielles Leid und unsere Gefährdung für die kleinen oder großen Ränkespiele irgendwelcher Idioten herhalten müssen.«
Ohne den Ergebnissen der Ermittlungen vorgreifen zu wollen, kann gesagt werden, dass diese Übergriffe und Straftaten vor und auf einem gesellschaftlichen Hintergrund stattfinden, der von einer großen und weiter zunehmenden Unmenschlichkeit geprägt ist. Über die über die Zunahme des Hasses in der gesellschaftlichen Mitte, die alltägliche, beständig wachsende Menschenfeindlichkeit der großen Politik und darüber dass selbige immer deutlicher und öfter inhumane Praxen und Einstellungen hervorbringt und legitimiert erschien heute auf den NachDenkSeiten ein Gespräch von Jens Wernicke mit Klaus-Jürgen Bruder, dem Vorsitzenden der Neuen Gesellschaft für Psychologie. Hier das Gespräch mit freundlicher Genehmigung der NachDenkSeiten:
Kapitalismus im Kopf
Herr Bruder, Sie sind einer der Organisatoren und Referenten des demnächst stattfindenden Kongresses „Politik der Menschenfeindlichkeit“ der Neuen Gesellschaft für Psychologie. Worum geht es hierbei?
Das Thema des Kongresses im März nächsten Jahres lautet genau: „Politik der Menschenfeindlichkeit gegen Flüchtlinge“ – und steht unter dem Oberthema: „Migration und Rassismus“.
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die Angst vor Flüchtlingen – das sind ja alles keine neuen Phänomene. Üblicherweise spricht man über sie aber unter Bezugnahme auf individuelle Einstellungen und Verhaltensweisen. Kaum thematisiert hingegen wird Menschenfeindlichkeit der großen Politik.
Diese zeigt sich besonders deutlich in den Ausprägungen der aktuellen Flüchtlingspolitik. Ist hier aber auch nur Symptom einer allgemeinen Zunahme von Menschenverachtung und Menschenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft: Der Neoliberalismus forciert ein Denken, ein Fühlen und eine Praxis zunehmender sozialer Kälte und Konkurrenz „Jeder gegen Jeden“, indem er den Egoismus zur Leitfigur erhebt.
Unser Denken, unsere Wahrnehmung und Fühlen werden vergiftet, sodass Hass gegen Arme, gegen Kranke, gegen Fremde, gegen alles, was anders und nicht gut verwertbar ist, zunehmend „gesellschaftsfähig“ wird, was ich als „Zynismus der politischen Klasse“ bezeichnet habe.
Diese Vergiftung des Denkens, begleitet nicht nur den alltäglichen Kampf „Jeder gegen Jeden“, sondern öffnet zugleich einer Propaganda des Krieges „aus Verantwortung“ heraus Tür und Tor, stellt also die zentrale neoliberalistische Parole der „Selbstverantwortung“ in den Dienst der Mobilisierung für kriegstreibende Politik! Im Kern eine Orwell‘sche Verkehrung: Die äußerste Menschenfeindlichkeit wird hier zum Menschenrecht erklärt.
Was genau verstehen Sie denn unter Menschenfeindlichkeit?
Der Begriff der „Menschenfeindlichkeit“ wurde ja durch die Bielefelder Forschungen und Berichte über die „Deutschen Zustände“ der letzten Jahre in die Diskussion gebracht bzw. zu einem festen Begriff der Sozialwissenschaften erhoben, etabliert.
Diese Untersuchungen stellten eine Zunahme „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ in einem repräsentativen Querschnitt der deutschen Bevölkerung fest. Sie stellten zugleich einen Zusammenhang her zwischen dieser Zunahme, der Zunahme an fremdenfeindlichen und rechtsradikalen Einstellungen, Haltungen und Äußerungen in Politik und Bevölkerung sowie der Veränderung der Lebensbedingungen: zunehmende finanzielle Einschnitte für die Haushalte, steigende Arbeitslosigkeit, Hartz IV.
Sie stellten zugleich das Entstehen und die Vertiefung einer Spaltung innerhalb der Bevölkerung fest. Zwischen jenen nämlich, die von der negativen Seite der Veränderung der Lebensbedingungen, von zunehmender Armut und dem Herausfallen aus und der Teilnahme an den sozialen Bezügen betroffen sind, und denen, die von diesen Veränderungen profitieren: eine Abkopplung dieser „Privilegierten“ und die Entwicklung einer Haltung, für die die Bielefelder Forschungsgruppe den Begriff der „sozialen Kälte“ in die Diskussion eingeführt hat.
Lassen Sie es mich vielleicht mit Brecht so sagen: „Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“
Und mit der Zunahme dieser elendigen Lebensbedingungen, dieser menschenfeindlichen Praxen vor allem durch den Staat gehen – auf der anderen Seite, wenn Sie so wollen – auch immer mehr entsprechende Haltungen und Konzepte auf Seiten der Menschen und ihrer Gedanken und Gefühle einher: Arme sind faul, „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ etc. pp. Die Einzelnen übernehmen hier oftmals die vorherrschende Ideologie, welche letztlich Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Praxen, also konkreter Lebenserfahrungen ist.
Das verstehe ich nicht … Erklären Sie das doch bitte einmal ausführlicher.
Wir gehen davon aus, dass menschenfeindliche Haltungen und Äußerungen der Menschen keine bloßen Reflexe auf Veränderungen der sozialen Verhältnisse und Zustände und also auf den seit einigen Jahren grassierenden Sozialabbau sind. Etwa nach dem Muster: „je mehr, desto mehr“ – je mehr Arbeitslosigkeit also, desto stärker das rechtsradikale Potential, oder: je mehr Ausländer, desto größer das Ausmaß der Ausländerfeindlichkeit. Sondern, dass zwischen „Reiz“ und „Reaktion“ noch etwas steht und angenommen werden muss, das sozusagen zwischen beidem vermittelt. Den „Reiz“ also erst zum „Auslöser“ für die „Reaktion“ macht, ihn sozusagen „zuschneidet“, „konstruiert“, sodass er die erwünschte „Reaktion“ auch auszulösen in der Lage ist.
Menschen werden also nicht aufgrund zunehmender Armut per se zu Faschisten, Menschenfeinden etc.?
Genau. Die hierfür notwendigen Haltungen und Modelle muss man Ihnen vielmehr erst noch beigebracht haben. Und an dieser Stelle geht es eben um die Vermittlung und die Vermittler zwischen „Reiz“ und „Reaktion“, zwischen empörender Lebenslage und Antwort darauf, womit die Medien und andere Vermittler in den Fokus der Auseinandersetzung rücken, und natürlich die „politische Klasse“ insgesamt mit all ihrem Neusprech und ihren Spins.
Nicht nur, aber besonders in der Krise ist der Bürger anfällig für Manipulation und Selbstbetrug. Und das nutzen die Eliten schamlos für sich: Würden wir unser aller Wut ob der zunehmenden sozialen Spaltung nicht auf die Opfer derselben, auf „die Ausländer“ etc. richten – kämen wir auf Dauer wohl gar nicht umhin, die Nutznießer der permanenten Umverteilung von unten nach oben in den Fokus der Kritik zu nehmen. Und das ist natürlich nicht gewünscht… Darum ist „der Feind“ „der Ausländer“ – oder der Arme, der Kranke, wer auch immer; nur niemals der immer reicher werdende Millionär oder Milliardär.
Und wie funktioniert das? Wie wird da mittels Ideologie „Spaltung“ produziert?
Nun, „der Ausländer“ ist ja bereits eine Konstruktion – ebenso wie „der Arbeitslose“. Eine Konstruktion aus negativen Assoziationen und vermeintlichen „Eigenschaften“, den Dingen, mit denen die Leitdiskurse diese Begriffe über Jahre und Jahrzehnte sozusagen „aufgeladen“ haben: „Arbeitsscheu“, „faul“, „sich in die soziale Hängematte fallen lassend“, „von unserem Geld schmarotzend“ usw. Die ablehnende bis feindselige Haltung als „Reaktion“ auf diese Konstruktion – und damit auf die mit dieser belegten Menschen – ist da, ja, man möchte fast sagen: sogar nachvollziehbar.
Nehmen wir zur Veranschaulichung einfach einmal das Beispiel der Arbeitslosigkeit und denken an die riesigen Zahlen derer, die in den letzten Jahren gekündigt worden sind: Sie waren plötzlich „überflüssig“, denn ihre Arbeit war von Maschinen, von Automatisierung, von technischen Verbesserungen oder schlechter Bezahlten übernommen worden. Jahrelang hatten diese zuvor die Firmen durch ihre Arbeit mit aufgebaut, vergrößert, und nun mussten sie zusehen, wie sie „ausrangiert“ wurden. Ihr Ärger, ja, ihre Wut wäre die zu erwartende Antwort auf diese Behandlung gewesen. Wut, die sich rationalerweise nicht auf die Maschinen, die sie überflüssig machten, sondern auf die Menschen, die die Maschinen dazu nutzen, sie überflüssig zu machen, also auf die Unternehmer, gerichtet hätte.
Naheliegend, dass diese die Wut abzulenken versuchen auf andere als sich selbst. Beispielsweise eben die „Ausländer“, mit der Begründung, diese seien es, die den bisher Angestellten die Arbeit wegnähmen. Dass es die Unternehmer selbst waren, die die „billigeren“ Arbeitskräfte eingestellt haben, wird mit der Ablenkung, der Verschiebung der Wut auf diese, gleich mit vergessen gemacht.
Wenn ich recht verstehe: Über Medien und Politik wird eine Art „Aggressionsverschiebung“ auf die Opfer der herrschenden Politik organisiert? Die Wut der Massen richtet sich so vielmehr gegen diese als gegen die eigentlichen Urheber der sich verschlechternden Situation? Das klingt ein wenig nach Verschwörungstheorie.
Mag sein, in Summe handelt es sich aber nur um eine konsequente Analyse der herrschenden Verhältnisse sowie politischen Ökonomie.
Vereinfacht kann man das wohl in etwa so zusammenfassen: Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein. Die Lebensverhältnisse der Menschen einer bestimmten Epoche und einer Region sind sehr unterschiedlich, was sich in einer hierarchischen Ordnung der verschiedenen Klassen zeigt. Die Gedanken der Mitglieder aller Klassen fungieren hierbei zur Absicherung von Herrschaft derjenigen Klasse, die am meisten von der jeweiligen Gesellschaftsstruktur profitiert. Die herrschenden Gedanken sind daher immer die Gedanken der Herrschenden. Das sind sie auch deshalb, weil diesen Herrschenden die Medien unterstehen und sie also entscheiden, was an Ideologie produziert und verbreitet wird.
Die Interessen der herrschenden Klasse werden als die vorgeblich gemeinsamen aller Mitglieder der Gesellschaft dargestellt. Marx und Engels bezeichnen Gedanken, die den Interessen der herrschenden Klasse dienen, uns aber als allgemeingültig dargestellt werden, als Ideologie. Ideologie kann durch Kritik aufgedeckt werden.
Mit unserem Kongress geht es uns daher vor allem darum, aufzuzeigen, wie Menschen im Sinne bestimmter Interessen respektive einer vorherrschenden Ideologie sozusagen „dumm“ gemacht werden.
Denn sowas fällt ja weder vom Himmel noch handelt es sich um reinen Zufall, der niemandem nutzt.
Dann lassen Sie uns das doch bitte kurz anhand der Flüchtlingspolitik durchsprechen. Was genau ist hier menschenfeindlich? Und warum läuft niemand hiergegen Sturm? Wird auch hier die Menschenfeindlichkeit als „gut und gerecht“ ausgegeben und inszeniert?
Die Menschenfeindlichkeit besteht hier in erster Linie aus der Negierung der Verantwortung für die Fluchtgründe der Flüchtenden. Die Behauptung lautet: „Wir können doch nicht alle nehmen!“ – so Merkel gegenüber dem palästinensischen Mädchen. Gleichzeitig aber vertreiben wir, zerbomben ihnen die Häuser und zerstören die Lebensgrundlage– das können wir!
Das ist die grundlegend menschenverachtende, menschenfeindliche Haltung der westlichen Wertegemeinschaft – bzw. deren Propagandisten und Nutznießern. Die Bevölkerung denkt zum großen Teil nicht so und handelt daher auch entgegengesetzt.
Rainer Hank nennt das in der FAS vom 20.12.2015 dann eben „menschenrechtlichen Moralismus“ – so schnell wird in diesem „Leitmedium“ die Fahne gewechselt.
Die Bevölkerung ist nicht damit einverstanden, die Menschen, nach hunderten von Kilometern in sengender Sonne oder in der Kälte tagelang warten zu lassen, oder gar, wie jetzt in der Türkei, in KZs einsperren oder durch Soldaten in Empfang nehmen zu lassen. Das ist bedenkenlose Retraumatisierung der durch Krieg und Terror Traumatisierten.
Und, verstehe ich recht: Deswegen also die „Medienkampagnen“, die geflügelten Worte, die „Konstrukte“ der Politik, um all das und anderes dennoch als „gut und richtig“ darzustellen? Werden wir also von Menschenfeinden regiert und von unserer Lebenswelt selbst immer mehr zu Menschenfeinden „gemacht“?
Wenn Sie wollen: Ja, durch unsere „Lebenswelt“, durch die Weise, wie wir unser Leben organisieren, wie wir produzieren. Karl Marx hat das gut auf den Punkt gebracht, sein ganzes Werk durchzieht dieser Gedanke, durchzieht die Erkenntnis von der antihumanen Weise, wie wir die Reproduktion unseres Lebens organisieren.
Auf den Punkt gebracht schreibt er 1844:
„Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert“, so wäre meine Arbeit „freie Lebensäußerung, daher Genuss des Lebens. Unter der Voraussetzung des Privateigentums ist sie Lebensentäußerung, denn ich arbeite, um zu leben, um mir ein Mittel des Lebens zu verschaffen. Mein Arbeiten ist nicht Leben. (…) (Diese) Tätigkeit (ist) mir verhaßt, eine Qual und vielmehr nur der Schein einer Tätigkeit, darum auch eine nur erzwungene Tätigkeit und nur durch eine äußerliche zufällige Not, nicht durch eine innere notwendige Not mir auferlegt ist. (…) Daher erscheint sie nur noch als der gegenständliche, sinnliche, angeschaute und darum über allen Zweifel Erhabene Ausdruck meines Selbstverlustes und meiner Ohnmacht.“
Was wäre denn der Ausweg aus diesem … „Prozess“? Was erhoffen Sie – auch von Ihrem Kongress?
Eine Diskussion über die Möglichkeiten der „Umkehrung der Laufrichtung“, wie Thomas Bernhard das einmal in seiner Autobiographie genannt hat.
Ich bedanke mich für das Gespräch und wünsche Ihnen einen guten Kongress.
Weitere Informationen, weiterführende und ergänzende Links finden sich hier
> "Ist ja gut Andreas, aber weit vom windigen "conrad" bist du in dieser Sache auch nicht entfernt. Radikal ist radikal. "
Von wem soll ich inwiefern in welcher Sache nicht weit entfernt sein?
Inwiefern bin ich an welcher Stelle radikal?
(In Zukunft vielleicht gleich ein paar Argumente mitliefern, dann spart man sich die Rückfragen ;))