Persönliche Erinnerungen an das Kriegsende in Marburg – Gefühle, Ängste, Hoffnungen
Wer erinnert sich noch an das Kriegsende in Marburg? Das sind Mitbürger, geboren etwa 1935 und früher. Vielleicht ruft die Redaktion der Oberhessischen Presse dazu auf, eigene Erinnerungen mitzuteilen und demnächst zu veröffentlichen – sehr unwahrscheinlich. Doch von meiner Seite rufe ich auf, hier als Kommentar oder mir per Mail einige Gedanken zu schreiben. Ich werde sie – auch anonym – danach der Öffentlichkeit zugänglich machen.
Vor 75 Jahren waren 5 ½ Jahre Krieg, mehr als 2.000 Nächte mit verdunkelten Fenstern vorbei. Die meisten Marburger hatten keine ausreichenden und schon gar keine verlässlichen Informationen wie es außerhalb der Stadt und schon gar nicht wie es mit den Kriegshandlungen aussah. Desinformationen gab es genügend, vor allem in der lokalen, der Partei ergebenen Presse „Oberhessische Zeitung“. Man wusste nicht, was man glauben sollte. Aber es gab noch viele, die bis zum Schluss alles geglaubt haben, glauben mussten, was in der Parteipresse stand.
Immer noch hieß es, die Deutschen sind die Besseren, die anderen verüben Gräueltaten. Und vor allem, trotz des unaufhaltsamen Vormarsches der Alliierten, hieß es: die deutsche Armee würde zurückschlagen („In 14 Tagen sind unsere Soldaten wieder zurück“) und der Einsatz der Wunderwaffen würde alles ändern. Siehe meinen Ausschnitt von Anfang 1945 (Abbildung links) mit einem Kommentar in der Oberhessischen Zeitung durch den Chefredakteur Dr. Carl Hitzeroth. Dieser platzierte seine Ergüsse jeweils als Kommentar zur Lage auf Seite 1 der Zeitung.
In diese Gemengelage kamen am 28. März 1945 die Amerikaner nach Marburg und wenig später in die Ortschaften im Kreis. Es geht mir mit diesem Aufruf nicht um die konkreten Ereignisse, wo und wie die Amerikaner einmarschiert sind. Dazu liegen Berichte vor. Es geht darum, wie die Gemütslage war, als doch überraschend der Krieg auf einmal zu Ende war und keiner wusste wie es weitergehen würde. Und dass von einem Tag zum anderen eine völlig neue Lage vorgefunden wurden.
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Hier meine Gemütslage im März 1945 – aber ich war damals erst 4 Jahre, stand kurz vor meinem 5. Geburtstag und habe wenig Erinnerungen.
Ich weiß noch, dass ich an der Hand meiner Mutter aus dem Luftschutzkeller gegangen bin und draußen Panzer der Amerikaner zu sehen waren. Meine Mutter ist wohl sehr ängstlich gewesen und ist mit mir sofort und schnell in unsere Wohnung gelaufen.
Dann erinnere ich mich noch an ein Erlebnis wenige Tage, vielleicht nur drei Tage später, beim Spielen am „Inselchen“ in der Firmaneistraße. Es gab eine Auseinandersetzung unserer kleinen Jungengruppe mit einer anderen Jungengruppe, vielleicht einer Gruppe vom Steinweg. Unsere Gruppe bestand aus vielleicht vier bis fünf Jungen, die alle am Anfang der Ketzerbach wohnten. Alleine in dem Haus, in dem wir wohnten, gab es drei Jungen im gleichen Alter.
Da hörte ich, wie der Stärkste und Mutigste von uns die anderen beschimpfte und er benutzte das Wort „Ihr Nazis“ als Schimpfwort. Dies habe ich bis heute nicht vergessen. Denn die Familie dieses Jungen war für meine Eltern und mich die einzigen „Nazis“, mit denen wir Kontakt hatten. Wie konnte jemand, der bis wenige Tage vorher dazugehört hatte, dessen Familie für mich „die Nazis“ waren, nun andere mit diesem Schimpfwort belegen? Ich war perplex und konsterniert.
Mein Vater hatte regelmäßig den Sender London abgehört, um sich zu informieren. Im Haus gab es keine abgeschlossenen Wohnungen. Wir hatten im obersten Geschoss zwei Zimmer, die je eine Türe zum Treppenflur hatten. Meine Mutter saß immer auf der halben Treppe, wenn mein Vater das Radio anhatte. Kam jemand unten auf die Treppe, dann ist sie sofort in das Zimmer gerannt und hat das Radio ausgedreht und einen anderen Sender, einen deutschen Sender eingestellt. Denn man wusste, die Denunzianten gingen in die Wohnung und stellten das Radio an. Wenn dann Radio London zu hören war, dann war es vorbei. 5 Jahre Lager gab es dafür. Wenn man die Nachrichten weitergegeben hatte, darauf stand die Todesstrafe mit sofortigem Vollzug. Dies wusste jeder – die Oberhessische Zeitung hatte zu oft davon berichtet.
Und unter unserer Wohnung lebte eine ältere Frau (Großmutter der Nazifamilie), von der man wusste: Die war zwar nicht in der Partei, aber sie war Zuträgerin an die Gestapo und Partei und war sehr zu fürchten.
Meine Eltern müssen sehr erleichtert gewesen sein. Aber es wurde – zumindest in meinem Beisein – nicht darüber gesprochen. Denn die Nazis waren noch alle da. Die Abhängigkeit der kleinen Leute, zu denen wir gehörten, blieb. Doch die Fliegeralarme, das in den Luftschutzkeller-Rennen, das angezogen im Bett liegen, das war vorbei.
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Eingefügt am 6. Mai 2020: Kopie des Kommentars von Dr. Hitzeroth, da die eingefügte Abbildung nicht gut zu lesen ist.
„Der Terror wütet
Marburg, 8. Febr. 1945
Dr. C. H. Unsere Feinde haben in ihrer Agitation immer wieder versprochen, den Völkern Europas auch die Freiheit zu bringen, die sie angeblich unter der tyrannischen Fremdherrschaft der „Nazis“ verloren hatten. Sie haben längst zugeben müssen, daß die Völker unter deutscher Besetzung nicht nur genug zu essen hatten, für ihre Arbeiten richtig entlohnt wurden und deutsche Fürsorge in jeder Weise genossen, die deutsche Besatzungsmacht hat bekanntlich auch nirgends in die inneren Verhältnisse der von Deutschland besetzten Länder eingegriffen, wenn nicht gegen unterirdische Bewegungen, die die deutsche Armee und Verwaltung bedrohten.
Umso gründlicher verfahren die Angloamerikaner und vor allem die Bolschewiken dort, wo sie die Macht haben. Daß die neuen Regierungen in Italien, Belgien, Frankreich, Griechenland nur Puppen in der Hand der Churchill und Roosevelt oder Stalins selbst sind, ist inzwischen eine Binsenwahrheit geworden. Die Demokratien können und wollen gar nicht die Versprechungen erfüllen, die sie den Völkern machten, damit auch alle Not um das tägliche Brot ein Ende finde …
Aus Sizilien wird es gemeldet, daß die Angloamerikaner 10- bis 13-jährige Kinder kasernierten, angeblich um sie von der Straße zu bringen, in Wahrheit um sie zu verschleppen. Das ist ihre Freiheit des schlimmsten Terrors – im XX. Jahrhundert! …
Es rührt auch die Westmächte in keiner Weise, wenn aus Frankreich immer wieder gemeldet wird, daß bolschewistische Terrortruppen in die Gefängnisse einbrechen, dort des Nationalismus oder der „Colloboration“ verdächtige Gefangene herausholen und selbst ein Urteil ohne Urteilsspruch durch Genickschuß vollziehen. …“
Zitiert aus: Karl-Heinz Gimbel, Marburg im 2. Weltkrieg, 3. Aufl., Marburg 2020, S.82
Es ist ein Unterschied zwischen 'gewusst haben was passierte' und dem anderen 'gewusst haben, was passierte'. Wer wollte bestreiten, dass sich der Umgang mit den Juden in Städten und Dörfern vor aller Augen abspielte? Die rassisctische Begründung dafür lieferte die NSDAP gleich mit. Insoweit hat "es" jeder gewusst.
Es war auch bekannt, dass Juden sukzessive abtransportiert wurden und es hieß, sie würden in den Osten, in die Ukraine gebracht, um auf den leeren Feldern zu arbeiten. Von Vernichtungslagern wie Auschwitz und Treblinka war den Bürgern im Reich nichts bekannt.
Der Patenonkel meiner Frau meldete sich auf Anraten seines Vaters als Wehrpflichtiger zur Waffen-SS, da sein Vater unter dem Kaiser ein begeisterter Soldat gewesen war und die SS als Elitetruppe galt. Beim ersten Heimaturlaub war er in Tränen aufgelöst und wollte die Waffen-SS verlassen. "Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was sie mit den Menschen machen!" war seine Begründung, den man als Wachsoldaten in einem Lager eingesetzt hatte. Nähere Ausführungen dazu durfte er nicht machen. Der Vorfall belegt, dass die Vernichtungslager im Reich nicht bekannt waren. Es war aber zu spät für eine Versetzung zu einem anderen Wehrmachtsteil. So meldete er sich freiwillig an die Front, um sich nicht auf Dauer schuldig zu machen. Er fand sein Ende bei der Invasion in Frankreich im Alter von 21 Jahren. Vermutlich hat ihn das davor bewahrt, nach dem Krieg vor Gericht gestellt zu werden.