Marburger Oberbürgermeister – Nr. 4: Ludwig Wilhelm Schüler (1884-1907)
Nachdem Oberbürgermeister Rudolph in Pension gegangen war, folgte ihm im Jahr 1884 Ludwig Wilhelm Schüler, im weiteren Ludwig Schüler genannt. Seine Wahl war auf zwölf Jahre bestätigt worden. 1896 wurde Schüler auf zwölf Jahre wiedergewählt. Er schied im Jahr 1907 auf eigenen Wunsch aus dem Amt.
Geboren wurde Ludwig Schüler am 6. Januar 1836 in Kassel. Sein Vater war dort Stadtgerichts-Assessor. Schüler studierte von 1855 bis 1859 - wie vorher sein Vater - Jura in Marburg. Er bestand die notwendigen Examen mit „gut“. Seine Referendarzeit verbrachte Schüler in Rinteln und übernahm nach dem Tod seines Vaters, wie er schreibt „von Mitteln entblößt“, Aushilfsleistungen in Actuariaten der Justizämter in verschiedenen Städten des Kurfürstentums Hessen-Kassel.
Nach Ernennung zum Sekretär im Jahr 1867 und verschiedenen Anstellungen bewarb Schüler sich als besoldeter 2. Bürgermeister in Grünberg/Schlesien. Er konnte dies Amt übernehmen. Wenig später wurde er zum Bürgermeister der Stadt Glatz gewählt.
Nach seiner Wahl zum Oberbürgermeister in Marburg wurde Schüler mit Ehren aus Glatz entlassen. In Anerkennung und Würdigung seiner mehrjährigen Dienste für die Stadt Glatz wurde er zum Ehrenbürger der Stadt Glatz ernannt. Bei seinem Abschied aus der Stadt nahmen die Polizeibeamten – so berichtete es die Lokalzeitung in Glatz – vor dem Rathaus Aufstellung. In Begleitung von vier Wagen, in denen die Stadträte und die Magistrats-Beamten saßen, wurde er zum Bahnhof kutschiert.
Und es hieß weiter: „Und das, was er gewirkt und geschaffen und was er begonnen hat, ohne es zu Ende führen zu können, es ist eine Zukunftssaat, die zum Segen und Gedeihen unserer Stadt aufgehen und sich entwickeln und den Namen ihres Schöpfers in den Archiven unserer Stadt als einen der Besten verzeichnen wird.“
Amtseinführung im Jahr 1884 mit würdevoller Feier
Die Oberbürgermeisterstelle in Marburg war im Februar 1884 ausgeschrieben worden. Bei der Wahl am 28. April 1884 erhielt Ludwig Schüler im ersten Wahlgang die erforderliche absolute Stimmenmehrheit im Stadtrat und in der Großen Ausschuss-Versammlung. Schüler, dessen Wahl von der Regierung in Kassel alsbald bestätigt wird, erhält in Marburg ein Jahresgehalt von 5.000 Mark.
Die Amtseinführung wurde eine würdevolle Feier, in der auch die Verdienste, insbesondere die Verleihung der Ehrenbürgerschaft in Glatz angesprochen wurde. Es wurde der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass diese in Glatz gewürdigten Taten auch in Marburg Erfolg bringen würden. Vizebürgermeister Siebert überreichte dem neuen Oberbürgermeister den großen städtischen Silberbecher zum Willkommenstrunk. Die feierliche Versammlung schloss die im Rathaussaal stattgefundene Feier mit einem fröhlichen Hoch auf den neuen Oberbürgermeister.
Dem gemeinsamen Frühschoppen auf der Boppschen Terrasse folgte um 2 Uhr nachmittags ein Festessen mit sechzig Teilnehmern im Hotel Ritter auf der Ketzerbach. Der Preis des Festessens pro Person wurde mit drei Mark angegeben. Die Kosten wurden von der Stadt getragen. Bei dem Festessen wurden sowohl Reden mit ehrenvollen Würdigungen sowohl an den scheidenden Oberbürgermeister Rudolph als auch an den neuen Oberbürgermeister Schüler gehalten.
Der neue Oberbürgermeister muss sich umgehend tatsächlich mit vollem Elan in seine neuen Aufgaben gestürzt haben. Bereits vor der Amtseinführung hatte er die Errichtung einer Krankenkasse in Marburg begleitet. Der Gesetzesbeschluss war im Vorjahr bekannt geworden. Schüler hatte diese Gesetzesvorgabe bereits in Glatz realisiert.
Schüler nahm sich der Turmbausache auf Spiegelslust mit aller Tatkraft an
Als eine Sache, die ihn danach über Jahre intensiv und zeitraubend in Anspruch genommen haben muss, ist sein Einsatz für den Bau eines Aussichtsturms auf Spiegelslust anzuführen. Ein von Spenden finanzierter und fast fertiger Aussichtsturm auf Spiegelslust, einem sehr beliebten Ausflugsziel der Marburger Bürger, war im März 1876 bei einem im ganzen Reich fürchterlich wütenden Orkan in sich zusammen gefallen. Die Bürgerschaft war durch diesen Totalverlust hart getroffen worden.
Erst 1883 war wieder der Wunsch aufgekommen, doch den allseits geforderten Aussichtsturm mit einer neuen Aktion zur Vollendung zu bringen. Doch Oberbürgermeister Rudolph hatte keine glückliche Hand bewiesen. Der Vorsitzende des alten Turmbau-Comités, der bekannte Physik-Professor Melde, verweigerte die Zusammenarbeit.
Schüler nahm sich der allseits gewünschten Turmbausache tatkräftig an. Was Rudolph nicht gelungen war, weil sich Melde ihm verweigert hatte, gelang dem neuen Oberbürgermeister.
Schüler gründete noch im Jahr seines Amtsantritts ein neues Turmbau-Comité und wurde Vorsitzender. Er hatte sich von verschiedenen Seiten Zeichnungen und Kostenanschläge kommen lassen. Schüler war umsichtiger und tatkräftiger Organisator. Und es gelang ihm bereits im darauf folgenden Jahr, mit Professor Melde und den Mitgliedern des alten Comités eine Übereinkunft zu erreichen. Und mit 3.579 Mark wurde das restliche vorhandene Geld, das für den zusammengefallenen Turm vorhanden war, an das neue Comité übergeben.
1887 wurde der Grundstein für den neuen Aussichtsturm auf Spiegelslust gelegt, nahezu an der gleichen Stelle, wo der erste Turm in sich zusammengebrochen war. Schüler ließ die notwendigen Spenden nicht nur durch Sammelbüchsen hereinholen, sondern organisierte eine Sammlung in allen Häusern der Stadt. Offensichtlich mit Hilfe des vor wenigen Jahren erstmals herausgegebenen Marburger Adressbuches wurden 14 Listen erstellt aus allen Straßen der vier Stadtquartiere. Aus den penibel geführten Listen mit 2.512 Familien ist ersichtlich, dass es dem Comité gelungen war, von sämtlichen Haushalten der Stadt einen Beitrag zu bekommen.
Schüler selbst war der Erstunterzeichner der Gründungsmitglieder mit einem Beitrag von 100 Mark. Vor allem Professoren und reiche Kaufleute taten es ihm gleich. Nur Professor Melde verweigerte sich. Der Vorsitzende des Vorgänger-Comités blieb im Schmollwinkel.
Die Ärmsten der Stadt waren mit 50 Pfennigen als Spende verzeichnet. Dies war für diese Familien immerhin manchmal der Gegenwert für eine Ration Brot pro Woche. Deshalb ist sogar in einigen Fällen angegeben, dass die Sammler den Betrag von 50 Pfennigen in fünf Wochenraten abgeholt hatten.
Es ist durchaus nicht übertrieben, wenn man feststellen muss, dass die gesamte Marburger Bürgerschaft einschließlich der damals schon fast tausend Studenten der Fertigstellung des Aussichtsturms hoch oben auf Spiegelslust im Jahr 1890 entgegenfieberten. Die Einweihungsfeier am 2. September 1890, die sich über den gesamten Tag hinzog, wurde zur größten Feierlichkeit von Marburg im 19. Jahrhundert.
Für die Feiernden begann der Feiertag, die Einweihung war auf den Sedantag gelegt worden, bereits um 6 Uhr morgens mit dem Hornsignal Reveille durch das Musikorchesters des Gymnasiums. Zu dem Weckruf läuteten die Glocken der Stadt. Danach waren Schulfeiern in allen Schulen angesetzt und eine Kranzniederlegung auf dem Friedhof. Um 1 Uhr mittags kam es zur Aufstellung des Festzuges auf der Ketzerbach.
Um 2 Uhr marschierte ein kilometerlanger Festzug begleitet von mehreren Musikkapellen von dort hinauf nach Spiegelslust. Den Schülerinnen und Schüler aller zehn Marburger Schulen sowie deren Lehrer folgte „die Universität“, alle Vereine der Stadt und die restliche Bürgerschaft. Den Schluss bildeten die städtischen und staatlichen Behörden.
Von dem gelungenen Fest mit der Einweihung des Aussichtsturms, der den Namen „Kaiser-Wilhelm-Turm“ zu Ehren des zwei Jahre zuvor verschiedenen Kaisers Wilhelm I. erhielt, berichtete die Oberhessische Zeitung in allen Einzelteilen über mehrere Seiten.
Es war damals nicht üblich, lokalen Nachrichten großen Raum in der Lokalpresse zu geben. Auf einer Seite, die in fünf Spalten aufgeteilt war, standen manchmal nur eine, höchstens zwei Spalten für Lokalnachrichten zur Verfügung. Doch diese Feier war über mehrere Tage in der Presse das Hauptthema.
Selbst die von Oberbürgermeister Schüler bei der Einweihung gehaltene Rede wurde in Oberhessische Zeitung am Tag nach Einweihung ungekürzt abgedruckt. In einer Sondersitzung des Stadtrats wurde Schüler in besonderer Weise für seine Mühen zur Errichtung des Turms gedankt. Auch diese Lobrede an den Oberbürgermeister, der die Turmbausache so erfolgreich vorangetrieben hatte, wurde in der Presse abgedruckt.
Mit der gelungenen Errichtung des Kaiser-Wilhelm-Turms hatte Schüler sich der gesamten Marburger Bürgerschaft als tatkräftiger Planer und Schaffer vorgestellt und hatte alle überzeugt. Er konnte damit für die nächsten Jahre auf eine gute Zusammenarbeit und wohlwollendes Entgegenkommen von Bürgervertretern und der Bürgerschaft bauen.
Schülers Wiederwahl erfolgte 1896 einstimmig
Schüler war unverheiratet. Er erhielt im Laufe der Jahre mehrere Auszeichnungen, u. a. den Titel „Geheimer Regierungsrat“. Schüler hatte seine Wurzeln nicht in Marburg, hat sich aber in den vielen Jahren seiner Tätigkeit voll auf Marburg konzentriert und ist in dieser Tätigkeit ganz aufgegangen. Er war Mitglied in einem wichtigen Stammtisch von Honoratioren der Stadt und kämpfte leidenschaftlich für seine Ideen, wie er die Stadt voranbringen wollte.
Er hatte seine gesamte Energie in seine Amtsführung gelegt. Es wird berichtet, dass er den gesamten Tag vom frühen Morgen bis zum Abend im Rathaus verbracht hat. Und dies bis ins hohe Alter, noch seiner Pensionierung als Abgeordneter in der Stadt und im Landkreis.
Schüler wurde 1896 für zwölf Jahre einstimmig von den anwesenden Vertretern der Stadt wiedergewählt. Sein anfängliches Gehalt von 5.000 Mark war bereits 1891 auf 6.000 Mark angehoben worden, später sogar auf 7.000 Mark.
Schüler war Vorsitzender vieler Kommissionen. Hier eine Auswahl:
Armen-Kommission, Feuerlösch- und Rettungs-Kommission, Einquartierungs-Kommission, in verschiedenen Schul-Kommissionen, Viehmarkt-Kommission, Jahr- und Wochenmarkt-Kommission, Gesundheits-Kommission, Straßenbahn-Kommission, Kommission „E“ für Elektrizitätswerk und die elektrische Bahn usw.
Er war auch im Marburger Verschönerungsverein aktiv. Es wird berichtet, dass manchmal nur sechs Mitglieder bei den Versammlungen und Besprechungen anwesend waren. Aber Schüler war immer dabei.
Schülers Oberbürgermeisterzeit kennzeichnete ihn mit unermüdlicher Arbeitskraft
Die Aktivitäten von Schüler gingen so weit, dass er – wie aus den vorliegenden Akten ersichtlich - die Protokolle der Ausschüsse und viele Schriftstücke, auch mehrseitige Verträge, nicht nur selbst verfasst, sondern sie auch einschließlich der notwendigen Kopien handschriftlich zu Papier gebracht hatte.
Dies bedeutete für ihn einen immensen Arbeitsaufwand. Bedingt war dies offensichtlich auch durch den geringen Beamtenapparat der Stadt. Mehrmals bemängelte Schüler nicht nur die beengten Raumverhältnisse im Rathaus, sondern auch die zu geringe Anzahl von Mitarbeitern.
Bei den Auseinandersetzungen um die Sache, nicht nur in den städtischen Gremien, sondern auch in zahlreichen Vereinen. muss er manchmal auch rigoros seine Ansichten vertreten haben. Aber auch trockener Humor soll den Oberbürgermeister ausgezeichnet haben, seine Bemerkungen "lösten manchmal höchste Heiterkeit aus".
Die Marburger Lokalpolitik wurde zu der damaligen Zeit, heute oft als gute, alte Zeit bezeichnet, sehr emotional geführt. Es gab zwar oft Streit, auch persönlicher Art. Aber Parteipolitik oder gar Fraktionszwang – wie heute üblich – war noch undenkbar. Es ging um die Sache. Es ging darum auf welche Seite ein Bürgersteig gelegt werden sollte oder welche Straßen mit einer Maßnahme betroffen waren oder nicht.
Dabei zeigte es sich oft, dass sich die Vertreter einzelner Stadtteile oder Anlieger bestimmter Straßen massiv bekämpften. Als Beispiel sei hier angefügt, dass es bei der geplanten Einführung der Straßenbahn, zuerst als Pferdebahn, um die jeweils als „richtig“ angesehene Linienführung über lange Zeit zu Versammlungen mit mehreren hundert Teilnehmern und heftigen Diskussionen kam. Petitionen erreichten den Magistrat, die teilweise von allen Anliegern bestimmter Straßen in großer Zahl unterzeichnet waren.
Dass Oberbürgermeister Schüler gegen Angriffe manchmal dünnhäutig reagierte, zeigt ein Vorfall aus dem Jahr 1903. Der Spediteur August Heppe erschien eines Tages aus Verärgerung über einige ihm unverständliche Entscheidungen des Magistrats mit einem Wagen Heu auf dem Marktplatz. Er begann, vor dem Rathaus eine mächtige Fuhre abzuladen. Anschließen stellte August Heppe ein Schild auf den Heuhaufen: „Für die Ochsen im Rathaus“.
Dieser stadtbekannte Vorgang steht offensichtlich in Zusammenhang zu einem Bericht zur Wahl der Stadtverordneten Ende des Jahres. In der Meldung der Oberhessische Zeitung über eine Versammlung des Bürgervereins spielte offenbar August Heppe eine wichtige Rolle:
„Wie aus den Verhandlungen hervorging, ist als Kandidat der dritten Wählerabteilung u. a. der Möbeltransporteur A. Heppe hier nominiert worden … Hiermit ist nun, wie ausgeführt wurde, unser Oberbürgermeister nicht einverstanden und soll er im Falle der Wahl des Genannten beabsichtigen, sein Amt niederzulegen.
Um dies zu verhüten, sind nun Schritte getan worden, Heppe zu veranlassen, auf seine Kandidatur zu verzichten, weil die Stadt durch den Rücktritt des Oberbürgermeisters jedenfalls geschädigt würde. In der Versammlung erklärte Heppe, dass er nicht derjenige sein wolle, der Unfrieden veranlasse, man möge von seiner Wahl Abstand nehmen.“ (Aus: Oberhessische Zeitung vom 16.11.1903)
August Heppe wurde nicht gewählt und Ludwig Schüler blieb Oberbürgermeister.
Vielleicht ließ sich Schüler wegen dieses Vorfalls bei der Ende 1903 bei der Vergabe der Konzession für die neue Pferdebahn zu einer Entscheidung leiten, die danach sicherlich zu seinem Unwillen von der Stadtverordnetenversammlung gegen das Begehren von Schüler korrigiert wurde.
Es gab für die Übernahme der Pferdebahn zwei Bewerber. Einer der Bewerber war Fuhrunternehmer Bruno Deckmann. Dieser hatte 1899 von der Stadt den Pferdeomnibusbetrieb (Fahrtstrecke von der Stadt zum Bahnhof Nord) übernommen.
Der andere Bewerber war Fuhrunternehmer Eduard Heppe, Vetter von August Heppe. Heppe hatte 1893 mit einem eigenen Pferdeomnibus den Pferdebusbetrieb in Marburg gegründet und bis 1899 betrieben. Allerdings klagte er über zu geringe Einnahmen. Dies veranlasste Schüler, die Konzession 1899 an Deckmann zu übergeben und Heppe auszuschalten.
Schüler entschied sich für Deckmann. Ein mehrseitiger Vertrag wurde - handschriftlich – aufgestellt und von beiden Seiten unterschrieben. Doch Heppe war damit nicht einverstanden.
Im Gegensatz zu Deckmann, der erst seit wenigen Jahren in Marburg tätig war, besaß Heppe beste Verbindung zu maßgebenden Leuten der Stadt. Er informierte Stadtverordnete über seine Bedingungen zur Übernahme der Straßenbahn. Diese Bedingungen waren besser aufgestellt als die für Deckmann in den 15 Paragrafen aufgeführt waren.
Es wurde eine Sitzung der Stadtverordnetenversammlung einberufen, in der die Übernahme der Straßenbahn zur Abstimmung gestellt wurde. Heppe siegte und Schüler musste den mehrseitigen Vertrag erneut niederschreiben, diesmal zugunsten von Heppe.
Schüler musste diese Niederlage schlucken. Die handschriftlichen Vertragsformulierungen über insgesamt je acht Seiten existieren noch erhalten sowohl im Privatbesitz Heppe als auch in den Akten der Stadt Marburg.
Das Stadtbild von Marburg veränderte sich
Schon zur Amtszeit von Oberbürgermeister Rudolph wurden Stadterweiterungen geplant. Nun wurden sie realisiert. Straßen im Südviertel wurden gebaut und benannt. Villen reicher Bürger entstanden dort. Sie sind heute als Mehrfamilienhäuser genutzt.
Ebenso weitete sich Marburg nach Norden aus. Ein kleines Industrieviertel mit Seidel, Heppe und Ostheim entstand in der Rosenstraße auf dem ehemaligen Besitz des Deutschen Ordens, früher genutzt als „Küchengarten“. Ein neues Bahnhofsgebäude wurde 1908 in Betrieb genommen. Von dem Marbacher Landwirt Götz wurde der Götzenhain käuflich erworben.
Die seit dem schweren Hochwasser von 1763 nur notdürftig mit einer Holzkonstruktion versehene Weidenhäuser Brücke wurde im Jahr 1892 als Steinbrücke neu aufgebaut. Die Schützenpfuhlbrücke leitete ab dem gleichen Jahr den Verkehr in Richtung Cappel über die Lahn. Ein Versammlungsgebäude mit Theatersaal, zuerst "Museum“ später "Stadtsäle“ genannt, wurde ab 1887 kultureller Mittelpunkt der Stadt.
Wenige Jahre vorher musste der berühmte Komponist Franz Liszt in Marburg sein Oratorium „Die heilige Elisabeth“ noch in der lutherischen Pfarrkirche aufführen. Warum es den österreichischen Klaviervirtuosen 1883 in die kleine Stadt an der Lahn verschlug, kann mit seinem Vetter Professor Franz Ritter von Liszt in Zusammenhang gebracht werden. Der ältere Franz war zudem Taufpate des Professors gewesen. Dieser wirkte von 1882 bis 1889 als Strafrechtler an der Marburger Universität und fungierte 1886/87 als Rektor.
Mehrere neue Bahnlinien verbanden Marburg mit Biedenkopf und Frankenberg. Der Bahnhof Süd als Haltestelle wurde verknüpft mit der Marburger Kreisbahn, die nach mehreren Baustufen bis Dreihausen führte.
Die Tapetenfabrik wurde in einem großen Gebäude am Pilgrimstein betrieben. Mehrere Schulen wurden gebaut, so in Nachfolge der 1886/87 errichteten Südschule (Knabenschule in der Schulstraße) enstanden nach 1900 die großen Gebäude der Bürgerschule Nord und des Realprogymnasiums an der Uferstraße. Am Rotenberg und hinter dem Renthöfer Tor entstanden acht große Verbindungshäuser, finanziert von den „Alten Herren“ der Studentenverbindungen.
Die neuen Wohnbauten in der Biegenstraße, aus Backstein errichtet, wurden von vielen wegen des Aussehens angegriffen. Von „Berliner Mietshausstil“ war die Rede. Und die Wogen gingen in der Presse und Öffentlichkeit hoch, man bevorzugte eine Villenbebauung wie im Südviertel.
Auch für die Königliche Universität (der Name „Philipps-Universität“ wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg offiziell) stellte Berlin die finanziellen Mittel bereit, um großzügige Klinik- und Institutsbauten zu errichten. Das Kliniksviertel entstand an der Robert-Koch-Straße. In der Universitätsstraße wurde die Bibliothek gebaut. Der Backsteinbau fand jedoch nicht die ungeteilte Zustimmung in der Stadt mit ihren Fachwerkhäusern. In der Cappeler Straße gründete man die lange geforderte Irrenanstalt.
Im Jahr 1890 gelang Schüler - allerdings erst nach harten Kämpfen - die Übernahme der Gasanstalt in die Hände der Stadt. Der Gaspreis wurde daraufhin von 30 auf 18 bzw. 12 Pfennige (privat/gewerblich) gesenkt. Die Stadt hatte zwar 1856 den Beschluss gefasst, eine Gasanstalt zu gründen. 1862 war mit dem Bau begonnen worden. Doch seit 1866 wurde die Gasanstalt von einer Aktien-Gesellschaft betrieben, bei der die Stadt nur Anteilseigner gewesen war.
Auch in der Versorgung mit Trinkwasser wurde die Lage der Stadt verbessert. Die Jahrhunderte lange Wassernot wurde durch den Kauf von Quellen und der Lahnmühle in der Gemarkung Wehrda endgültig beendet.
Im gleichen Jahr war in Marburg die Müllabfuhr von der Stadt übernommen worden. Die Konzession erhielt Eduard Heppe. Heppe war neben seinem Fuhrgeschäft mit Möbeltransport, Chaisenfuhrwerk und Kohlehandel auch im Bauhandwerk aktiv und im Besitz von Sandgruben am Ortenberg. Nun musste er zusätzlich Pferde und Fuhrleuten stellen zur Abfuhr von Hausmüll, Straßenkehricht und Schlamm in der gesamten Stadt.
Als Geschichte sei noch angefügt, dass für Schülers Amtszeit als Oberbürgermeister bemängelt wird, dass dieser die Ansiedelung einer Automobilfabrik in Marburg verhindert habe. Sein Stadtbaumeister Louis Broeg, ein Automobilnarr, hatte beste Verbindungen zu Carl Benz gehabt. Beide, Broeg und Benz, sollen 1885 die Errichtung einer Automobilfabrik in Marburg geplant haben. Noch zwanzig Jahre später wird in einer Sitzung des Bürgervereins mit Bedauern angeführt, dass vor Jahren in Marburg „von höherer Seite“ die Ansiedelung von Industrie verhindert worden war.
Marburg ging nicht den Weg in eine Industrie- und Arbeiterstadt. Doch zu den Amtszeiten von Schüler hatten sich in Marburg große Veränderungen vollzogen. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in der Stadt teilweise ländliches Platt gesprochen, erhaltene Briefe beweisen dies. Zu Beginn dieses Jahrhunderts wurde Marburg noch als „Universitätsdorf“ gekennzeichnet (so Leopold von Ranke). Bis 1900 vollzog sich nach und nach die innere Beschaffenheit der Gemeinde in Richtung mittelstädtischem Rang.
Der Charakter der Stadt blieb jedoch im kleinbürgerlichen Rahmen. Die Vermögenden, welche die Villen im Südviertel errichteten und die Jahr für Jahr die deutschen Kurbäder besuchten, gehörten einer abgehobenen Bürgerschicht an. Gleichwohl hat die Universität mit ihrem immer größeren Gewicht insgesamt eine positive Entwicklung vom „Dorf“ zur Stadt begünstigt.
Ludwig Schüler hatte im Magistrat kompetente Mitarbeiter an seiner Seite
Ludwig Bücking
war Vizebürgermeister 1868 und von 1891-1893. Dem rührigen Kaufmann und Besitzer einer Reihe von Grundstücken kann man bescheinigen, dass er immer ein lebhaftes Interesse für das Wohlergehen seiner Vaterstadt gehabt und großes Engagement gezeigt hat.
Zu seinem 80. Geburtstag im Jahr 1913 sollte ihm auf Antrag der Stadt ein hoher preußischer Orden verliehen werden. Doch der Antrag war zu spät in Berlin eingetroffen und kam deshalb abgelehnt zurück. Daraufhin beschloss Stadtrat, ihm zu Ehren den Hochwasserdamm im Südviertel die Benennung die Benennung „Bücking-Promenade“ zu geben. Noch heute ist der Name Bückingsdamm erhalten.
Die Bückingsche Villa in der Universitätsstraße 48 wurde 1958 zugunsten neuer Gerichtsbauten abgerissen. Gegen den Abriss hatte die „Initiative Marburger Stadtbild“ heftig protestiert. Ludwig Bücking ist mit dem Nestor der Marburger Stadtgeschichte, dem Lehrer Wilhelm Bücking nur entfernt verwandt (Vettern 4. Grades). Beide Familien haben in Marburg eine lange Tradition.
Professor August Ubbelohde
lebte seit 1865 in Marburg. Das Amt als Vizebürgermeister übte er von 1881-1884 aus. Der Rechtswissenschaftler war der Vater von Otto Ubbelohde, geboren in der Elisabethstraße 9. Auch Robert Bunsen hatte dort gelebt, Das Gasthaus „Felsenkeller“ wurde 1969 abgerissen und durch eine Bausünde ersetzt. Otto Ubbelohde wurde 1921 Ehrenbürger der Stadt Marburg. Eine Tafel an dem Haus erinnerte an beide ehemalige Bewohner.
Friedrich Siebert
übte das Amt des Vizebürgermeisters von 1884-1904 aus. er spielte bei vielen Entscheidungen eine sehr wichtige Rolle. Der vermögende Apotheker war in vielen Vereinen und Initiativen aktiv, wurde bereits 1901 Ehrenbürger der Stadt. Siebert ist Gründer der pharmazeutischen Verbindung der Hasso-Borussia. Zudem stellte er 10.000 Goldmark für die Gründung einer „Siebert-Stiftung“ zur Verfügung. Die Zinserträge sollten der Anschaffung ärztlicher Hilfsgeräte dienen.
Zu seinem 75. Geburtstag veranstaltete seine Verbindung Hasso-Borussia eine Fasspartie auf der Augustenruhe und am folgenden Tag einen Fackelzug durch die gesamte Stadt. Der Weg von der Elisabethstraße zu dem Verbindungshaus an der Augustenruhe wurde nach ihm benannt. Er starb 1918.
Professor Hermann Schmidt-Rimpler
Der berühmte und erfolgreiche Mediziner gründete in Marburg die Augenklinik. Er war hochangesehen und sehr aktiv in der Marburger Kommunalpolitik als Stadtrat und Vizebürgermeister. Die von ihm erbaute Augenklinik in der Unteren Rosenstraße (heute: Robert-Koch-Straße) wurde im 2. Weltkrieg zweimal zerstört.
Emil Schimpff
bekleidete das Amt des Stellvertreters als 1. besoldeter Beigeordneter von 1901-1913. Die neue „Städteordnung“ von 1897 sah die Bezeichnung Vizebürgermeister nicht mehr vor. Er war mehrfach in Vertretung bei Abwesenheit von Oberbürgermeister Schüler in der Leitung der Verwaltung tätig.
Marburg dehnt sich aus und überwindet den Bereich der alten Stadtmauern
Was mit den Planungen zum Ausbau der Stadt Marburg unter Oberbürgermeister Rudolph begann, wurde in der Amtszeit von Schüler realisiert. Aus mehreren Varianten für die Gestaltung des Südviertel, wobei zeitweise der Wilhelmsplatz mit Anlage eines großen Kreisverkehrs vorgesehene war, aber in dieser Form nicht zur Ausführung kam.
Nach damaligem patriotischen Verständnis wurden die neuen Straßen den Kaisern Wilhelm und Friedrich und der Erinnerung an siegreiche Schlachten gewidmet: Wilhelmsplatz und –straße, Friedrichsplatz und –straße, Wörthstraße (heute: Liebigstraße), Weißenburgstraße (heute: Schücking-Straße). Im Südviertel entstanden die großen Villen reicher Bürger. Sie werden heute als beliebte Mehrfamilienhäuser genutzt.
Marburg hatte ohne Zweifel vom Anschluss an Preußen prosperiert. Zuwendungen zum Ausbau der Universität, der Aufbau einer Garnison und der Anschluss an weitere Eisenbahnlinien stärkten die Stadt.
Dies zeigen vor allem auch die Einwohnerzahlen im Vergleich:
1866: 7.718 Einwohner, 257 Studenten
1900: 17.581 Einwohner, 1.300 Studenten
Daten aus der Volkszählung 1905:
Marburger Einwohnerzahl, insgesamt 20.136 E., eingerechnet 668 Militärpersonen.
17.386 evangelisch, 2.095 katholisch, 157 andere Christen, 512 Juden, 6 unbestimmt.
1.456 Wohnhäuser bewohnt, 36 unbewohnt. 3.547 Haushalte, einzeln lebende Männer mit Haushalt 99, Frauen 200, Gast- und Logierhäuser 16, Anstalten 18.
Allerdings war der Schuldenstand der Stadt immer weiter gestiegen. Marburg war immer eine arme Stadt und ist es noch über viel Jahrzehnte geblieben. In der Stadtverordnetenversammlung wurde über jede geplante Ausgabe jeweils hart gerungen.
Die Bewohner der Stadt waren mehrheitlich konservativ eingestellt
Die Politik in der Stadt wurde vorrangig von Honoratioren gestaltet. Finanzielle Leistungen für Abgeordnetentätigkeit waren unbekannt. Ein Arbeiter hatte keine Zeit für ein „Ehrenamt“ zur Verfügung. Die reicheren Professoren, Kaufleute und Rentiers blieben unter sich.
Man kannte sich in der noch kleinen Stadt, aber die jeweiligen Kreise blieben unter sich. Die einfachen Bürger grüßten höflich und devot die damals noch wenigen Professoren. Diese agierten als Herrscher in ihren Bereichen, den Kliniken und Instituten. Den Bürgern war jeder der Herren Professoren der Universität bekannt. Umgekehrt traf dies nicht zu. Die höheren Herrschaften blieben meist unter sich. Einmal im Jahr traf man sich zum Rektoratsball.
Damals bereits verehrte Geistesgrößen waren neben dem Nobelpreisträger Emil von Behring die Professoren Robert Bunsen, Otto von Heusinger, August Ubbelohde, Emil Mannkopff, Paul Natorp, Hermann Cohen, um nur einige zu nennen.
Manche Professoren wurden mit ihren Eigenarten belächelt. Aber wohl niemals in abfälliger Weise. Dass Professor Ernst Ranke oft laut deklamierend einsam durch die Straßen lief, wurde eher als Schrulle abgetan. Jeder wusste, dass er einen sehr berühmten Bruder Leopold Ranke in Berlin hatte, der sogar vom Kaiser in den Adelsstand erhoben worden war.
Die Bürger von Marburg waren mehrheitlich konservativ eingestellt. Sie waren patriotisch gestimmt, sowohl für „ihren“ Kaiser als auch für „ihre“ Stadt. Es gab ein starkes Vereinsleben, eine Vielzahl von Gesangverein und auch vaterländische Vereinigungen. Alljährlich gab es Schützenfeste und Sängerfeste.
Das städtische Leben um 1900
Besonders beliebt waren die frühmorgendlichen Musikdarbietungen auf Spiegelslust. Um 5 Uhr morgens waren zum Spiegeltempel, der dort bis 1922 als Eichenkonstruktion Schutz bot, jeweils Hunderte Bürgerinnen und Bürger versammelt. Sie lauschten jedes Jahr am Himmelfahrtstag und am 2. Pfingstfeiertag der von der Stadtkapelle dargeboten Musik und verzehrten dabei ihr mitgebrachtes Frühstück.
Sonntägliche Ausflugsziele waren Pfeiffers Garten, der Schützenpfuhl, Hansenhaus, der Kalte Frosch und weiter vor der Stadt der Frauenberg und der Lahngarten. Letzterer konnte ab 1892 sogar mit einem Motorschiff vom Wehrdaer Weg aus über die Lahn angefahren werden.
Wie die jeweiligen Bewohner der Stadt zu ihren Ausflugszielen kamen, bestimmte der zu zahlende Preis. Die 2,50 Mark teure Chaisenfahrt konnten sich nur die Professoren und mit vielen Zinspapieren ausgestatteten Rentiers leisten. Eine Bootsfahrt auf der Lahn kostete 15 Pfennige. Dies war das Vergnügen für die Handwerksmeister und auch die Studenten.
Die große Mehrheit der Marburger Bevölkerung allerdings wanderte zu Fuß zu den Ausflugslokalen. Bei einem Stundenlohn von 34 Pfennigen für einen Gesellen trank man ein Bier von einer der vielen Marburger Brauereien und aß das Mitgebrachte, meist selbst gebackener Kuchen.
Nicht nur allein der 1868 gegründete Verschönerungsverein, sondern auch andere Bürgervereinigungen sorgten die Anlage von Wanderwegen und "Tempeln" (befestigte Aussichtspunkte) rund um die Stadt. Die Festivitäten der Vereine und der Studenten in ihren Verbindungen waren Fasspartien und Stiftungsfeste.
Wie arm der größere Teil der damaligen Bevölkerung war, zeigt die Tatsache, dass selbst das Fahren mit der Straßenbahn, eine Fahrt kostete 10 Pfennige, sich die meisten nur zu besonderen Gelegenheiten gönnten. Viele Bedienstete marschierten früh am Morgen aus den Nachbardörfern über die Lahnberge in die Stadt zu ihrer Arbeitsstelle in den Villen der Reichen.
Wer auf einem der Dörfer rund um Marburg wohnte und für seinen Sohn eine Lehrstelle, für die man noch oft bezahlen musste, ergattert hatte, war glücklich dran. Aber der Sohn war gezwungen, beispielsweise von Goßfelden her, jeden Morgen zum Arbeitsanfang um 7 Uhr zu der Arbeitsstätte zu laufen - und abends wieder zurück.
Einige Handwerker, die das Recht hatten, in Gießen auf dem Markt ihre Waren zu verkaufen, nahmen den Fußweg nach Gießen mit einem Marsch von fünf bis sechs Stunden auf sich, um dort ihre mitgebrachten Waren feilzubieten. Mit dem Marsch am Nachmittag zurück eine riesige Anstrengung, heute kaum mehr vorstellbar. Für Mädchen war es besonders schwer, eine Ausbildung zu bekommen. Das Ziel war oft Kindergärtnerin oder Schneiderin. An ein Studium zu denken, war geradezu absurd.
Dagegen besuchten die höheren Töchter von Marburg die „Höhere Töchterschule“ (später: Lyzeum). Heute wird – auch in Marburg - in Veröffentlichungen akademischer Zirkel großes Bedauern darüber ausgedrückt, dass damals die Töchter aus gutem Hause nicht studieren konnten. Ausdruck eines elitären Bewusstseins.
Dies stellt die einseitige Sicht der privilegierten Kreise auf die Zeit um 1900 dar. Immerhin war es diesen Damen aus begüterten Kreisen vergönnt, in ihrer doch genügend vorhandenen Freizeit sich in Beschäftigungen wie Malen und Dichten zu verwirklichen.
Die heute gerne veröffentlichten Aktivitäten der „besseren Damen“ dieser Zeit haben mit der Realität der damaligen Verhältnisse für den übergroßen Teil der Bevölkerung in Marburg nichts gemein. Selbst die Chance zum Besuch einer der in Marburg vorhandenen „Höheren Schulen“ war für die Kinder der unteren Schichten - sie stellten die große Mehrheit der Marburger Bevölkerung dar - gleich Null.
Das Leben in Marburg wurde den ärmeren Schichten erträglicher gestaltet durch Bewirtschaftung eines Gartens, so klein er auch sein mochte. Nach dem langen Arbeitstag standen noch die Tätigkeiten im eigenen Garten an. Einen Eindruck davon, wie die Bürger von den Erträgen ihrer Gärten abhängig waren, geben Meldungen in der damaligen Presse wieder:
18. August: „Gartendiebe. In einem Garten an der Ecke Schwanallee wurde ein dicker Kürbis samt sonstigem Gemüse gestohlen.“
3. September: „Vorgestern Nacht wurden in einem Garten am Barfüßertor sämtliche Stachelbeeren gestohlen.“
Über solche Diebstähle gab es Gerichtsverhandlungen, die heute als lächerlich abgetan würden. Die damaligen, sehr armen Bürger waren jedoch auf geringste Mengen der eigenen Ernte angewiesen.
Zeitungswesen und politische Verhältnisse
Auch Zeitunglesen war das Privileg der besseren Schichten. Vor Bedeutung im lokalen Bereich war die konservativ eingestellte Oberhessische Zeitung (Redaktion: Dr. Hitzeroth) und die linksliberale Hessische Landeszeitung (Redaktion: von Gerlach). Sie führten teilweise einen Pressekrieg mit Richtigstellungen und gegenseitigen Vorwürfen mangelhafter Berichterstattung.
Aus heutiger Sicht werden die kämpferischen Aktivisten der linken Presse als wichtige Vorläufer späterer Parteigrößen dargestellt. In der damaligen Zeit fand deren Betätigung, wenn überhaupt von der Bevölkerung bemerkt, mehr am Rande statt. Gleichwohl ist bemerkenswert, dass mehrere Namen damals in Marburg weilender SPD-Mitglieder in Deutschland später bekannt wurden.
So ist unter anderen Wilhelm Liebknecht, Kurt Eisner oder Philipp Scheidemann zu nennen. Auch Wilhelm Pieck (später einziger Präsident der DDR) trat mit 19 Jahren am 1. Juli 1895 in Marburg in die SPD ein. Er war hierher gekommen, nachdem er als Tischlergeselle auf Wanderschaft gegangen war.
Ein anderer DDR-Politiker erinnerte sich bei einem Besuch von Marburg in der 1950er Jahren an seine Zeit in der Universitätsstadt. Otto Nuschke war von 1902-1910 Journalist und Redakteur der Hessischen Landeszeitung gewesen. Er berichtete in einem Interview: „Ich hatte mich damals durch scharfe Leitartikel unbeliebt gemacht, wurde „Umstürzler“ genannt.“
Als eines seiner „Verbrechen“ erzählte er, dass er in einem Artikel dagegen protestiert hätte, dass man Marburgs einzige gerade Straße, die Umgehungsstraße jenseits er Lahn, „Krummbogen“ genannt hätte.
Nur als Anmerkung: Bei seinem Besuch parkte er demonstrativ sein automobiles Gefährt am Marktplatz vor dem Brunnen. Er war mit einer russischen Limousine Typ SIS 110 (Nummerschild = IB 23-41), sehr protzig und klotzig, nach Marburg gereist – wie penibel in der Presse vermerkt wurde.
Das Ende der Amtszeit von Ludwig Schüler kam unerwartet
In der Stadtverordnetensitzung am 26. Oktober 1906 ging es in einer langen und hitzigen Diskussion um einen Vertrag mit Grundstückbesitzer Hoffmann und um eine Baufluchtlinienplan und "neue Straßenführungen am Ordenberg". Diesen Vertrag hatte Oberbürgermeister Schüler der Stadtverordnetenversammlung vorgelegt. Dabei spielte die Einsetzung einer Wertzuwachssteuer eine Rolle. Als beantragt wurde, „die Sache abzusetzen“, sagte der Oberbürgermeister, ihm sei in seiner 30-jährigen Dienstzeit noch nicht vorgekommen, dass derartige Resolutionen gefasst würden. Er ließe sich das Recht nicht nehmen, so oft er wolle, Vorlagen zu machen.
Als sich offenbar eine zu seiner Vorlage negative Lage ergab und es Äußerungen kam, man ließe sich die Wertzuwachssteuer bei einer Zustimmung zu der Vorlage entgehen, erklärte Oberbürgermeister Schüler: „die Wertzuwachssteuer ist da, weshalb halten Sie mir das immer vor“, und verließ erregt den Saal.
Bereits am nächsten Tag soll sich in der Stadt das Gerücht verbreitet haben, Oberbürgermeister Schüler hätte sich veranlasst gesehen, nach den Vorgängen in der letzten Stadtverordnetenversammlung sein Amt niederzulegen. Schüler hatte in der Tat diesen Entschluss in einer außerordentlichen Magistratssitzung abgegeben und angefügt, dass sein Rücktritt unwiderruflich sei.
In der Oberhessische Zeitung hieß es an nächsten Tag: „Wir machen von dieser bedauerlichen Tatsache heute nur diese kurze Mitteilung, da vorläufig die weitere Entwicklung der sehr unerwartet gekommenen Lage abzuwarten ist.“
In einer weiteren Meldung hieß es, dass der "Rücktritt von Oberbürgermeister Schüler in allen größeren deutschen Zeitungen als feststehende Tatsache übermittelt worden sei".
Am 3. November 1906 konnte man in der Oberhessische Zeitung folgende Mitteilung lesen:
„In einer gestern abgehaltenen gemeinsamen Sitzung des Magistrats und der Stadtverordneten wurde beschlossen, an Geheimrat Schüler das Ersuchen zu richten, die Amtsniederlegung rückgängig zu machen. Begründet wurde der Antrag u. a. damit, daß der Beschluß der Stadtverordneten, der Anlaß zu den Differenzen gab, in keiner Weise eine persönliche Kränkung in sich schließen sollte.“
Am nächsten Tag wurde veröffentlicht, dass anschließend an die Sitzung eine Abordnung zu Schüler gegangen war. Ihr wurde mitgeteilt, dass der Oberbürgermeister vorläufig in Urlaub gehen wolle. Sein hohes Alter sei der Last der Arbeit ohnedies nicht mehr gewachsen, doch werde er die Geschäfte bis zur Wahl des Nachfolgers weiterführen. und daraus wurde geschlossen, dass es so scheint, dass Geheimrat Schüler dem Wunsche des Magistrats und der Stadtverordneten nicht zu willfahren gedenke.
Schüler blieb bei seinem Entschluss zum Rücktritt. Aber er hatte zugestanden, bis zur Wahl eines Nachfolgers die Geschäfte weiterzuführen. Sein Ruhegehalt wurde auf 7.000 Mark, den gleichen Betrag wie zuletzt zu seiner Amtszeit, festgesetzt.
Am 15. Mai 1907 fand in der Stadtverordnetensitzung die Wahl zum Nachfolger statt. Vermerkt wird, dass „als erster der vor seiner Orientreise zurückgekehrte Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Exzellenz von Behring an die Wahlurne trat, dem dann alle Stadtverordneten folgten“.
Es erhielten „Bürgermeister Dr. Troje aus Einbeck 26, Beigeordneter Köttgen aus Barmen 8 und Bürgermeister Dr. Bielefeld aus Arnstadt 2 Stimmen. Dr. Troje war somit gewählt.“ Und es hieß weiter in der Oberhessische Zeitung: „Hoffen und wünschen wir, dass der richtige Mann gefunden ist, der unser städtisches Gemeinwesen in Zukunft leiten soll.“ Die Angabe des Doktortitels für Troje war nicht korrekt und wurde später nicht mehr verwandt.
Die Zeit nach der Pensionierung
In der Folgezeit wurde dem ehemaligen Oberbürgermeister eine Reihe von Ehrungen zuteil. Doch aus dem politischen Geschehen der Stadt Marburg konnte er sich nicht vollkommen lösen. Er war nach seiner Pensionierung sowohl als Stadtverordneter als auch als Abgeordneter im Kreistag aktiv.
Im Gegensatz zu seinem Nachfolger Troje nutzte er die Kontakte zu den Honoratioren der Stadt in einem gemeinsamen regelmäßigen Stammtisch. Troje konnte sich im Gegensatz dazu nicht zur Teilnahme an solchen informellen Gesprächsrunden durchringen. Er blieb – im Unterschied zu seinem Vorgänger Schüler – auf Distanz.
Der Deutschordensgut-Besitzer Eduard Hoffmann hatte den 70. Geburtstag des damaligen Stadtoberhaupts 1906 zum Anlass genommen, neben Stiftungen für den Verschönerungsverein ein Gelände von 20.000 qm zwischen Eisenbahn und Krummbogen mit der Auflage zu schenken, dass dort bis zum 1. Oktober 1915 ein öffentlicher Park angelegt werde.
Aus diesem Areal hat die dankbare Stadt unter Zukauf von weiteren 11.600 qm Land von Hoffmanns Erben einen Park gestaltet. Am 15. Mai 1915 konnte der nach dem Oberbürgermeister der Jahre 1884–1907 benannte „Ludwig-Schüler-Park“ eingeweiht werden.
Zu seinem 75. Geburtstag wurde er 1911 zum Ehrenbürger der Stadt Marburg ernannt. 1927 zum 400-jährigen Universitätsjubiläum wurde ihm von der Juristischen Fakultät der Philipps-Universität die Doktorwürde verliehen („dem 90-jährigen Greis“). Ludwig Schüler starb am 31. März 1930 in Marburg in seiner Wohnung in der Bismarckstraße 18 „ledigen Standes“, wie es hieß.
In der Rückschau war Ludwig Schüler sicherlich der engagierteste und immer zum Wohle der Stadt agierende Oberbürgermeister der Stadt Marburg. Es fehlte nicht an Auseinandersetzungen, oft genug sehr kontrovers. Aber immer stand die Sache im Vordergrund, Parteiinteressen und Ideologieeifer spielten bei Schüler keine Rolle.
Sein Andenken ist bis heute im Namen „Schülerpark“ bewahrt. Doch nur wenige der Marburger, nicht nur der später Hinzugezogenen, sondern auch von denjenigen, die ihre Wurzeln in der Universitätsstadt haben, können die Bezeichnung des Parks mit dem Wirken des ehemaligen Oberbürgermeister in Verbindung bringen. Einen besseren Bezug könnte die Namensgebung „Ludwig-Schüler-Park“ oder „Oberbürgermeister-Schüler-Park“ erreichen.
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am 16.01.2016
um 14:36
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