Europawahlen, NachDenkSeiten und die SPD: Ein Leserbrief
Auch auf den NachDenkSeiten wurden die Ergebnisse der Europawahl vom 26. Mai ausführlich besprochen. Der Beitrag von Albrecht Müller, einem der Herausgeber der NachDenkSeiten, "Nachruf auf die SPD – obwohl es eigentlich leicht wäre, diese alte Partei und ihre Chancen wiederzubeleben" rief ein gemischtes Echo bei den Leser_innen hervor, wie diese Zusammenstellung von Leserbriefen zeigt.
Der Leserbrief mit der Nummer acht in dieser Sammlung und eine kurze Anmerkung Albrecht Müllers dazu, veranlassten mich, selbst einen Leserbrief an die NachDenkSeiten zu schicken. Hier der Wortlaut:
Albrecht Müller: »Na ja, so ein Geschichtsbild kann man haben«
Sehr geehrter Herr Müller,
Leserbrief Nummer 8 in der Zusammenstellung „Leserbriefe zur EU Parlamentswahl und zum Abschneiden der SPD“ und ihre Anmerkung dazu, zeigen sehr schön das Dilemma, in dem sich humanistisch denkende und handelnde Menschen nicht nur in der Bundesrepublik befinden.
Der Leserbriefschreiber stellt völlig korrekt fest, dass die Sozialdemokratie nach dem 2. Weltkrieg nach und nach bereits den Anspruch auf eine grundlegende Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftstheorie aufgab, um als Anhänger der „sozialen Marktwirtschaft“ mehrheitsfähig zu werden.
Auch die Aussage, dass „dabei marxistische Grundsätze bei der Gesellschaftsanalyse und der Strategie und Taktik vom Tisch gekehrt wurden“, ist völlig korrekt. Ob dabei das Motiv „grenzenlosem Wachstum hinterherzulaufen“ eine Rolle spielte, wage ich zu bezweifeln. Die Abkehr vom „Marxismus“ war vor allem eine Abkehr vom sprachlich und gedanklich erstarrten dogmatischen Marxismus-Leninismus sowjetischer Prägung und zum anderen eine Abkehr von den unmenschlichen Methoden, mit denen diese Dogmen in der gesellschaftlichen Praxis brutal durchgesetzt wurden.
Mit dieser Operation wurde allerdings das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Eine grundlegende Gesellschaftsanalyse fand in der Sozialdemokratie auf marxistischer Basis nicht mehr statt. Dabei ist der Kern der Marxschen Gesellschaftskritik aktueller denn je. Richtig gelesen, öffnet Marx den Menschen die Augen darüber, wie sie in der bürgerlichen Gesellschaft zu Sklaven ihrer eigenen Handlungen werden. Gesellschaftliche Verhältnisse erscheinen den Menschen als Sachzwänge und natürliche Eigenschaften von Dingen.
Erich Fromm hat in seinen beiden kleinen Schriften „Das Menschenbild bei Marx“ und „Jenseits der Illusionen“ (im Original treffender „Beyond the Chains of Illusion“) diesen „esoterischen Marx“ (nach Robert Kurz) in Kurzform treffend herausgearbeitet.
Dieser Strang der Marxschen Theorie, der auch von den Wertkritiker_innen verfolgt wird, ist wieder aufzunehmen. Das wird allerdings nicht einfach sein. Führt alleine die Namensnennung von Marx bei vielen Menschen bereits zur Schnappatmung und Abwehrreflexen, kann sich jeder leicht vorstellen, was medial passiert, wenn eine halbwegs ernst zu nehmende politische Kraft versucht, auf marxschen Gedanken ein politisches Programm aufzubauen. Von den Auseinandersetzungen in der politischen Linken über die "wahre" Auslegung marxscher Gedanken mal ganz abgesehen.
Aber ohne eine grundlegende Kritik an den Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft (das ist die Gesellschaft, die mit dem Kapitalismus entstanden ist) wird eine gesellschaftliche Transformation in eine zukunftsfähige, sozial gerechte, friedliche und ökologisch nachhaltige Gesellschaft nicht gelingen. So lange die Gesellschaft warenförmig mit „Ware“, „Wert“, „Geld“ und „Lohnarbeit“ organisiert wird, so lange wird der Prozess der Barbarisierung und Zerstörung dieser Welt anhalten.
Des Pudels Kern: “In dieser Zeit der universellen Täuschung, ist die Wahrheit zu sagen ein revolutionärer Akt” (Georg Orwell). In Rezos Video "Die Zerstörung der CDU" wurde die Wahrheit gesagt. Aber nur die halbe.
Denn die ganze Wahrheit lautet:
Keine einzige halbwegs ernst zu nehmende politische Gruppierung ist bereit, die große Aufgabe anzupacken, in einer Sprache, die die Mehrheit der Menschen versteht, mit Sprachbildern, die die Menschen begreifen, eine radikale Gesellschaftskritik im oben skizzierten Sinne zu leisten. Und parallel dazu gesellschaftliche Kämpfe an der Oberfläche der Erscheinungen zu führen, mit denen zum Beispiel eine Begrenzung der gefährlich ansteigenden Oberflächentemperatur der Erde, soziale Gerechtigkeit, international friedliche Konfliktlösungen und eine tatsächliche Teilnahme und Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben durchgesetzt wird.
Ein kleines Beispiel: Wir alle verwenden das Sprachbild vom „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“. Wohl wissend, dass das wirkliche Verhältnis damit auf den Kopf gestellt wird. Der „Arbeiter“ gibt die Arbeit. Ein „Unternehmen“ nimmt sie. In unserem Kopf sitzt der Satz „Geben ist seliger denn nehmen“ und schon ist der „Arbeitgeber“ gefühlsmäßig fein raus. Und der „Arbeitnehmer“ ein undankbarer Sack.
Verehrter Herr Müller, leider sitzen auch Sie dem Trugschluss auf, die „progressiven Kräfte“ würden von außen unterwandert. Nein, die „progressiven Kräfte“ lassen sich von den „Erscheinungen“ an der gesellschaftlichen Oberfläche blenden und dringen nicht mehr zum „Wesen“ der gesellschaftlichen Verhältnisse vor. Das ist alles. Wer sich auf die warenförmige Gestaltung der Gesellschaft einlässt, muss mit dem leben, was derzeit passiert. Leider.
Herzliche Grüße aus Marburg
Hajo Zeller
Eine Sachlage zu akzeptieren heißt ja nicht zwingend eine Sachlage auch zu mögen.