Alte Marburger Straßenbahnuhr gefunden und enträtselt
Die Oberhessische Presse (Marburg) berichtete am 9. November 2020 vom Fund einer alten Straßenbahnuhr.
Man muss dazu wissen, dass in Marburg ab 1911 bis 1951 eine Straßenbahn fuhr, bereits kurz nach Eröffnung vom Hauptbahnhof zum Südbahnhof.
Übergeben wurde die Uhr von dem Finder, Herrn Bosch, einem Verein, der sich „Verein für Nahverkehrsgeschichte“ nennt. Herr Bosch hatte das Relikt, das lange in seinem Besitz war, korrekt der Marburger Straßenbahn zugeordnet.
Leider konnte, wie in dem OP-Bericht dargestellt, von den Vertretern des "Vereins für Nahverkehrsgeschichte" niemand etwas Richtiges mit der Uhr anfangen. Besser aufgehoben wäre die sehr interessante Relikt wohl in einem „Museum für Marburger Geschichte“.
Aber welche Aufgabe hatte diese auf den ersten Blick befremdliche Uhr?
Bei näherer Betrachtung erschließt sich die Nutzung der von den damaligen Planern, echte Könner, erstellten Uhr: Mit der Uhr wurden offensichtlich die gegenseitigen Begegnungen der Straßenbahn auf der eingleisigen Streckenführung geregelt. Die Uhr zeigt nur die Minuten einer Stunde an, nicht die Anzahl der Stunden. Nach 60 Minuten beginnt sie immer wieder von vorne.
Ein Beispiel zeigt dies:
Wenn eine Straßenbahn bei „10“ (das wäre z. B. 8:10 h oder 8:20 h usw.) am Hauptbahnhof abfährt, stellt der Straßenbahnführer den Zeiger an der Uhr auf "10" (bei der Anzeige "ab Hbf.Bhf."). Hält er den Fahrplan ein, dann kommt die Straßenbahn um „8“ (das wäre z. B. 8:18 oder 8:28 h usw.) an den Stadtsälen(*) an.
ab Hbf. Bhf. - "10" = 8:20 h
Elisab.Kirche - "3" = 8:23 h
Elt- Werk - "6" = 8:26 h (Anm.: die Abkürzung bedeutet Elektrizitätswerk am Rudolphsplatz)
Stadtsäle - "8" = 8:28 h
usw.
Die Straßenbahn der Gegenrichtung, die um „7“ (das wäre 8:07 h oder 8:17 h usw.) am Südbahnhof abgefahren ist (Zeiger entsprechend einstellen!), kommt ebenfalls um „8“ (8:18 h oder 8:28 h usw.) an den Stadtsälen(*) an.
ab Süd Bhf. - "7" = 8:17 h
Wilh Platz - "3" = 8:23 h
Stadtsäle - "8" = 8:28
usw.
Beide Straßenbahnen können an den Stadtsälen aneinander vorbeifahren. An drei Haltestellen, so auch an den Stadtsälen, gab es in Marburg eine Ausweiche mit zwei parallel laufenden Gleisen. Weitere Begegnungen sind mit der Uhr eingeplant um „3“ am Wilhelmsplatz und um „3“ an der Elisabethkirche. Dort befanden sich die anderen Ausweichstellen. Die Straßenbahnführer mussten nur exakt nach dem Plan der komisch anmutenden Uhr fahren. Dann hatte alles seine Ordnung.
* Erklärung: Die Stadtsäle waren damals in Marburg Theater und größter Veranstaltungsort zugleich, gelegen an der Kreuzung Universitätsstraße/Gutenbergstraße
"Verein für Nahverkehrsgeschichte" rätselt über Beginn der Straßenbahnfahrten zum Südbahnhof
Man sieht, damals waren clevere Leute bei der Straßenbahn tätig. Leider sind sie heute nicht mehr am Leben. Offenbar von alten Zeiten Begeisterte haben einen wohlklingenden Verein gegründet: "Verein für Nachverkehrsgeschichte". Der Verein führt Fahrten mit einem alten Bus der Stadtwerke durch. Die nostalgisch aufgemachten Fahrten sind beliebt. Mit der Betreuung des alten Busses und dem Fahrtangebot hat der Verein durchaus seine Verdienste.
Das interessante Fundstück wurde von dem Verein nicht als Uhr, sondern als "runde Anzeige" bezeichnet. Und auf die Frage der Presse, aus welcher Zeit das Teil stammen könnte, hieß es aus Kreisen des "Vereins für Nahverkehrsgeschichte":
"Auf jeden Fall nach 1934. Denn erst da fuhr die Straßenbahn bis zum Südbahnhof. In den Jahren zuvor war am Wilhelmsplatz Schluss." (Zitat)
Tatsächlich fuhr bereits im Dezember 1912 die Marburger Straßenbahn bis zur Südbahnhofsbrücke (Haltestelle „Südbahnhof“) in der Gisselberger Straße.
Die restliche Strecke bis zum Bahnhof mussten die Menschen zu Fuß über die damals noch schmale Südbahnhofsbrücke, erbaut 1892, zurücklegen. Die Haltestelle wurde 1934 von der Gisselbergerstraße über die Brücke bis zur Schranke am Südbahnhof verlegt .Die kurze Verlängerung war möglich geworden, weil in diesem Jahr die Brücke für den Verkehr der Reichsstraße 3 (heute: Bundesstraße 3) stark verbreitert worden war. Die Verlegung der R3 auf die Trasse des Krummbogens (südlich von Weidenhausen neu angelegt) befreite damals die Innenstadt mit ihren teilweise sehr engen Kurven vom Durchgangsverkehr.
Denkbar und eigentlich sehr wahrscheinlich ist, dass die Uhr schon sehr früh, also bereits ab 1912 zum Einsatz kam. Sie bildete den 10-Minuten-Takt ab – und den gab es bei der Marburger Straßenbahn von Beginn an. Später wurde ein Straßenbahntakt von alle 7 ½ Minuten eingeführt, da die Straßenbahn in Marburg großen Zuspruch fand. Die Uhr konnte mit diesem schnelleren Takt jedoch nicht mehr funktionieren. Exakte Angaben können meinem 2013 herausgegebenen Buch über „Die Marburger Straßenbahn“ (inzwischen vergriffen) entnommen werden.
Die Straßenbahnuhr hat wichtige Dienste geleistet
Schon 1892 gab es in Marburg einen ÖPNV. Vom "Verein für Nahverkehrsgeschichte" wird leider immer wieder fälschlich die Jahreszahl 1899 genannt. Der Fuhrunternehmer Eduard Heppe hatte 1892 in Bremen einen Pferdeomnibus gekauft. Mit Einverständnis der Stadt hatte Heppe für die Fahrten mit seinem Pferdeomnibus Fahrpläne an den Haltestellen von der Stadt, damals noch rund um den Schlossberg gelegen, zum weit im Norden befindlichen Hauptbahnhof aufgehängt. Aber ob es immer genau um Minuten bei den Abfahrten ging, ist ungewiss. Unbedingt notwendig war es nicht.
Mit der "Elektrischen" ab 1911 beginnend, war jedoch die genaue Einhaltung der Zeiten des Fahrplans Voraussetzung für den Betrieb der Straßenbahn. Denn auf der eingleisigen Strecke war nur an den Ausweichstellen ein Vorbeifahren möglich. Die Uhr machte es möglich. Und weil höchstwahrscheinlich damals nicht jeder Straßenbahnführer eine Taschenuhr oder gar eine Armbanduhr besaß, war die große Uhr ein bedeutender Teil der Bahn.
Wichtiger wird immer mehr, dass historische Relikte - auch aus der jüngeren Marburger Geschichte - an einem offiziellen Ort aufgehoben und dargestellt werden. Ein „Museum der Stadt Marburg“ ist längst überfällig. Die Aufstellung und die Erklärungen dazu sollte man Experten überlassen.
Anmerkung: Der Beitrag wurde vom Autor am 14.11.2020 durch einige Passagen ergänzt.
Freue mich, daß das mit dem Leserbrief doch noch geklappt hat. :-)