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Wie die Marburger ihre Lektion lernten.

Ein Märchen über Märchen und Menschen

„So kann's nicht weitergehn!“ „Schluss mit der Diskriminierung!“ „Das muss ein Ende haben!“ Der Tumult auf der Märchenwiese mitten im finsteren Märchenwald war unvorstellbar. Alle waren gekommen und alle riefen und schimpften kreuz und quer durcheinander: Rotkäppchen, das tapfere Schneiderlein, Rapunzel, der Froschkönig, der aufgeregt hin und her hüpfte. Frau Holle zupfte an einem Kissen, dazwischen immer wieder mit schriller Stimme das Rumpelstilzchen „Protest! Protest!“, nur manch hübscher Königssohn betrachtete das Geschehen mit vornehmer Zurückhaltung. Selbst die kleine Meerjungfrau und die Bremer Stadtmusikanten hatten wie noch viele andere den weiten Weg nicht gescheut.
Die weise Eule war es schließlich, die das Wort ergriff. „So beruhigt euch doch, liebe Brüder und Schwestern!“ Aber erst, nachdem der Wolf ein paar Mal mit lauter Stimme „Ruhe!“ gerufen hatte, konnte sie weiterreden. „Ihr habt ja Recht – es ist wirklich schlimm und so kann es nicht weiter gehen. Kein Mensch glaubt mehr an uns: Märchenfiguren – dass ich nicht lache! Wir leben und sind genauso wirklich wie die Menschen auch! Schuld daran sind nur die Grimms aus Marburg, aber auch der Andersen, der Hauff und wie sie alle heißen. Früher haben sich die Menschen ehrfürchtig von unseren Abenteuern erzählt. Und heute? Heute sind wir – Märchenfiguren! Pah!“
Alle hörten mucksmäuschenstill zu. Aber als die Eule fortfuhr: „Wir müssen etwas unternehmen! Die Menschen haben eine Lektion verdient!“ war der Lärm fast noch größer als vorher. „Bravo!“ „Endlich!“ „Hurra!“ „Richtig so!“ ertönte es vielstimmig aus der Menge. Nachdem sich alle wieder beruhigt hatten rief die Eule „Ich habe da so eine Idee... Ist eigentlich unser Freund aus Hameln auch hier?“ „Hier bin ich!“ Der Rattenfänger, ein junger Bursche in buntem Hemd, winkte aus der Menge. „Kannst du bitte mal zu mir kommen? Wir sollten etwas besprechen...!“

Eine Woche später sah man überall in Marburg bunte Plakate hängen. „Nächsten Sonntag großes Kinderfest auf den Lahnwiesen! Eintritt frei! Essen und Trinken umsonst! Kein Zutritt für Erwachsene!“ konnte man in farbigen Lettern lesen. Darunter war ein Gaukler in buntem Schellenkostüm zu sehen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Rattenfänger hatte...

Schließlich wurde es Sonntag. Die Straßen und Spielplätze, wo sich sonst die Kinder tummelten, waren wie leergefegt. Dafür herrschte auf den Lahnwiesen ein buntes Treiben. Weithin konnte man das Lachen und Jauchzen von hunderten von Kindern hören. Die Bremer Stadtmusikanten spielten auf, die sieben Geißlein machten allerlei Kunststücke und der Froschkönig balancierte eine goldene Kugel auf seinem breiten Maul. Der größte Andrang war aber am Tischlein-Deck-Dich des Schreinergesellen. Der hatte nämlich herausgefunden, dass man sich wünschen konnte, was man essen wollte. So rief er dann „Tischlein deck' dich mit Bratwurst, Pommes und Limonade!“ und schon waren die Speisen und Getränke bereit. Ja, das Tischlein war sogar so schlau, dass es Senf, Ketchup und Majo dazu stellte, ohne dass der Schreinergeselle es extra bestellen musste. Die Kinder bedienten sich eifrig, und kaum hatte sich eines eine Wurst genommen, schwupp - lag die nächste braun gebraten und lecker duftend bereit.
Später am Nachmittag – alle waren vom vielen essen und herumtollen müde geworden – ertönte von weit her feines Flötenspiel. Langsam wurde es lauter und die Kinder verstummten. Auf dem Lahnweg stand ein junger Bursche in buntem Gewand und entlockte seiner Flöte die wundersamsten Töne. Die Kinder hörten und schauten fasziniert zu, und dann, ganz langsam, begannen sie, in seine Richtung zu gehen. Gleichzeitig bewegte sich der Rattenfänger – denn um ihn handelte es sich – fast unmerklich rückwärts. Nach einer Weile zog sich ein langer Zug in Richtung der Lahnberge und verschwand schließlich im Wald.

Frau Holle begrüßte die Kinder herzlich auf der Märchenwiese und zeigte ihnen alles, was es dort zu sehen gab. Die Kinder aßen, tranken und spielten und waren rundum zufrieden. Nach einer Woche, die wie im Fluge vergangen war, trafen sich die Eule und Frau Holle. Sie waren sich einig, dass die Marburger lange genug um ihre Kinder gebangt und ihre Lektion gelernt hatten. So beauftragten sie den Rattenfänger, die Kinder zurück auf die Lahnwiesen zu bringen. Zur Erinnerung bekam jedes ein Stückchen Goldflitter, wie es seinerzeit auf die tüchtige Goldmarie geregnet war.

Die Freude in Marburg war groß. Die Kinder erzählten, wo sie eine Woche lang gewesen waren und wie schön es war. Allein – die Erwachsenen glaubten nicht an diesen „Märchenkram“, wie sie sagten. Sie vermuteten, die Kinder hätten sich bestimmt nur im Wald versteckt. Erst als sie die Stückchen echten Goldes sahen, staunten sie nicht schlecht und änderten ihre Meinung.

Und so ist es gekommen, dass die Marburger noch heute ein jedes Märchen glauben, das man ihnen erzählt...!

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8 Kommentare

Gut erzählt und ohne unsere Märchen-(Vor-)Bildung undenkbar. Das Märchen gefällt mir. Und wie alle Märchen will es nicht nur unterhalten, sondern eine Botschaft senden. Dass die Marburger noch heute ein jedes Märchen glauben, ist aber sicherlich überspitzt und nicht eine Besonderheit in dieser Stadt. Wie leicht werden wir verführt und lassen uns verführen: Filme, Schlager, Romane sind häufig moderne Märchen. Und Schuld daran sind sicherlich nicht die Grimms, der Andersen, der Hauff und wie sie alle heißen, meint Amadeus.

Marburg ist exemplarisch zu sehen (Untertitel: "Ein Märchen über Märchen und Menschen").
Eine wichtige Aussage ist die, dass Menschen gerne ihre Meinung ändern, wenn sie Bares sehen...

und noch was: über Märchen-, Länder- und Autorengrenzen hinweg ensteht eine echte Solidargemeinschaft. "Auf zum letzten Gefecht..." ;-)

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