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Leseprobe "Begegnungen - Geschichten aus der Psychiatrie": Schimmelreiter

Es sollte sich als mein letzter Versuch herausstellen, klassische Literatur in der Ergotherapie der gerontopsychiatrischen Abteilung zu etablieren. Mit der „Unendlichen Geschichte“ scheiterte ich ja schon. Was mich letztendlich bewog, den Patienten unbedingt Theodor Storms „ Schimmelreiter“ nahebringen zu wollen, weiß ich selbst nicht recht, jedenfalls brachte ich das Buch zu einer Gruppe von Langzeitpatienten von verschiedenen Stationen mit.
Wir versuchten die Bildung einer homogenen Gruppe durch Zusammenführung aus Patienten verschiedener Stationen. Es handelte sich nicht unbedingt um die stärkste Gruppe, deshalb suchte ich nach Angeboten, die die Patienten eher passiv konsumieren konnten. Ich wollte sie nicht zu stark fordern. Die Teilnehmer schauten sich mit mir im Vorfeld schon verschiedene Diareihen an: „Von der Saat zur Ernte“, „Vom Mehl zum Brot“, „Tiere des Waldes“, „Unsere Haustiere“, um nur einige zu nennen. Auch Tiervideos, von mir selbst zu Hause aufgenommen, schauten wir uns gemeinsam an. Und nun mein Versuch mit Literatur.
Heute erfolgte meine dritte Lesung des Schimmelreiters. Meine Kollegin war auch zugegen. Wir versuchten, es möglichst gemütlich zu gestalten: Kekse standen auf dem Tisch, jeder der Patienten hatte seine Apfelsaftschorle oder sein Mineralwasser vor sich. Aufgrund meiner Überlegung, es könnte nicht verkehrt sein, den Inhalt der letzten Lesestunde Revue passieren zu lassen, stellte ich zu Beginn ein paar Fragen.
„Wir haben ja letztens mit der Lektüre „Der Schimmelreiter“ begonnen. Welches Tier spielt denn in der Geschichte eine besondere Rolle?“ Keine schwere Frage, wie ich dachte.
Herr Schlauss hob die Hand und antwortete auch sofort: „Ein Löwe.“
Ich etwas entsetzt: „Nein! Kein Löwe.“
„Ein Wolf.“
„Nein!“
„Eine Katze.“
„Nein.“
„Ein Reh.“
„NEIN! Es ist ein Pferd! Ein Schimmel. Die Geschichte heißt doch ‚Der Schimmelreiter‘.“ Es lag etwas Nachdruck in meiner Stimme. Das belustigte Glucksen meiner Kollegin hob meine Stimmung auch nicht unbedingt.
Nächster Versuch. „In der Geschichte spielen ja die Deiche eine besondere Rolle. Weiß denn jeder von Ihnen, was ein Deich ist?“
Herr Merle von Station 3 antwortete. „Ja, hier gibst auch Deiche.“
„Bitte!?“ Das war ich.
„Ja, hier weiter oben. Die Straße rauf, da gibst Deiche.“
Ich kapierte nicht. Wohl aber meine Kollegin, deren Lachen prustend wieder einsetzte.
„Hier gibt es doch keine Deiche! Wüsste ich nicht.“ Mich erfasste irritierte Sprachlosigkeit.
„Doch, doch. Da sind sogar Fische drin.“ Frau Stöber, die sonst kaum ein Wort sagte. Immerhin schien sie Interesse zu bekunden.
Da ich immer noch nicht kapierte, erklärte ich: „Nur auf der Seeseite sind Fische drin.“
„Hier sind die überall drin. In jedem Deich.“ Wieder Frau Stöber.
Da kapierte ich. „Ach, Sie meinen ‚Teiche’! Die Teiche, die oberhalb der Klinik liegen. Ja, natürlich sind da Fische drin. Da haben Sie natürlich recht.“
Vor weiteren Ausführungen meinerseits erfolgte eine Frage von Herrn Lose. „Wie ist das denn in der Südsee? Gibt’s da auch Deiche?“
„Herr Lose, ich habe keine Ahnung. Da müsste ich mal schauen ...“
„Nicht wichtig“, sagte Herr Lose und winkte ab. Ich spähte etwas verzweifelt zu Astrid. Sie lachte nur und war keine echte Hilfe. Doch ich wollte mich noch nicht geschlagen geben und versuchte fortzufahren.
„In der Erzählung haben wir den Deichgrafen Hauke Haien kennengelernt. Ab einem gewissen Zeitpunkt geht es ihm in der Geschichte schlecht. Weswegen denn?
„Wegen der Medikamente.“
Ich drehte meinen Kopf schnell zu Herrn Mengel, der das in den Raum geworfen hatte.
„Medikamente?“
„Ja. Die Medikamente. Bekommen Sie auch Medikamente? Ich bekomme sogar Spritzen. Das finde ich gar nicht gut.“
„Nein“, sagte ich, „ich bekomme keine Medikamente. Auch keine Spritzen.“ Ich war total perplex, fühlte mich überfordert, konnte nicht einfach nur lachen wie Astrid und entschied daher entschlossen: „Ich lese jetzt einfach mal weiter und wir sehen mal, wie es in der Geschichte vorangeht.“
Es gab keine Widerrede, meine Kollegin stellte ihr Kichern ein und die Lesung wurde fortgesetzt. Da stand für mich allerdings schon fest, dass ich diese Geschichte wohl nicht bis zum Ende vortragen würde. Das nächste Kapitel noch und dann Schluss. Ich würde überhaupt nie mehr Patienten etwas vorlesen!
Nach einer halben Stunde ohne weitere Komplikationen endete die Gruppe.
Anschließend sprach ich mit Astrid über das Geschehen. Erst nachdem wir alles noch einmal Revue passieren ließen, konnte auch ich herzhaft über das Gruppenangebot lachen. Und zwar lange und lauthals. Den „Schimmelreiter“ legten wir ad acta. Doch vorgelesen habe ich dann später doch wieder. Nämlich Weihnachtsgeschichten zu Weihnachten. Goldrichtig!

© R. Güllich

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