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Aufruf zur Revolte

Marburg, im September 2013

Kurz vor der Bundestagswahl veröffentlichen Konstantin Wecker und Prinz Chaos II im Freitag einen Beitrag: Vielleicht muss gar nicht mehr viel passieren, bis wir aus dem Dornröschenschlaf erwachen. Konstantin Wecker und Prinz Chaos II haben jedenfalls Hoffnung.

Dieser Beitrag ist es wert, vor der Wahlentscheidung gelesen zu werden. Er macht Mut zur Veränderung.

Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik "Kultur", weil "Kulturschaffende" dazu aufrufen, sich in die Gestaltung des eigenen Lebens und der Kultur in diesem Lande einzumischen.

Aufruf zur Revolte

Wenn man einmal alle Faktoren der Gegenwart zusammenrechnet, die ökologische Situation, die wirtschaftliche Lage, den gigantischen, präventiv ausgebauten Repressionsapparat und auch, ja, leider, die zunehmende Verrohung und Entsolidarisierung der Menschen untereinander, dann muss einem Himmelangst werden. Dazu kommt das weltumspannende Netz von Geheimdiensten außer Rand und Band, und wir stellen uns die Frage, ob das hartnäckige Ausbleiben der Weltrevolution bei fortschreitender, krisenhafter Globalisierung des Kapitals nicht einen Weltputsch möglich macht, gewissermaßen einen 11. September für Fortgeschrittene. Hirngespinste? Das wäre zu hoffen.

Wir beide jedenfalls haben Angst vor einer Zukunft, die uns droht, wenn die globale Revolte ausbleibt. Im europäischen Süden und in Nordafrika hat diese Revolte bereits begonnen. Damit sie gelingt, muss jetzt auch in Deutschland etwas passieren. Wer tatenlos zuschaut, wie die Griechen sich gegen die Angriffe nicht zuletzt in Deutschland stationierter Konzerne abkämpfen, verrät am Ende sich selbst so sehr wie unsere griechischen Schwestern und Brüder.

Immerhin hatten die Enthüllungen Edward Snowdens einen kuriosen Effekt auf die Kommunikation der Menge. Zuvor war eine unausgesprochene Vorsicht, die berüchtigte Schere im Kopf, speziell auf Facebook überdeutlich spürbar, weil man ja insgeheim ohnehin vermutet hat, dass dieses Netzwerk massiv überwacht wird. Aber etwas vermuten und etwas wissen, ist ein großer Unterschied. Man muss das am nackten Körper brennende vietnamesische Mädchen aus dem Dorf laufen sehen, um zu verstehen, was Napalm bedeutet. Und wir mussten das grundanständige Gesicht Edward Snowdens sehen, um endlich wieder zu lernen, was das heißt: Anstand! Zivilcourage! Bürgerpflicht! Seit Snowden scheint der Würgegriff der Angst aufzubrechen. Immer mehr Menschen kommunizieren nach dem Motto: „Bist Du restlos archiviert, schreibt es sich ganz ungeniert“.

Auch in den deutschen Medien kann man von einer Situation vor und nach Edward Snowdens Enthüllungen sprechen. Viele Journalisten haben erkannt, dass diese ausufernden Praktiken staatlicher Kontrolle die Grundlagen ihres Berufes bedrohen. Prompt erleben wir in Bezug auf den Überwachungsskandal einen wachen und selbstbewussten Journalismus, wie wir ihn oft vermisst haben. Die breite Solidarität der Branche mit dem fabelhaft mutigen Glenn Greenwald und dem englischen Guardian ist beispielhaft.

Göttlicher Funke

Diese Besinnung auf das Berufsethos des Journalisten kommt zur rechten Zeit, denn offen und laut zu sagen, was ist, ist der erste Schritt auf dem Weg zur Revolte. Nur gibt es bekanntlich nichts Gutes, außer man tut es, und Missstände werden nicht dadurch abgeschafft, dass sie öffentlich aufgezählt werden. Ein spontanes Aufbegehren kann man auch nicht herbeischreiben. Dafür braucht es den göttlichen Funken der Inspiration, der auf die Menge übergreift ... und Organisation. Vorbildlich ist derzeit die türkische Taksim-Solidarität, ein Bündnis aus über hundert, mitunter sehr unterschiedlichen Bürgerbewegungen.

Was die massenhafte Verbindung inspirierter Entschlossenheit und präziser Organisation auch in Deutschland bewirken kann, durften wir beide als Teilnehmer der Dresdner Anti-Nazi-Blockaden erleben. Der bis dahin größte Naziaufmarsch Europas ist Geschichte. Dies ist gelungen, nachdem sich ein breites Bündnis von der autonomen Antifa über Gewerkschaften, Kirchen und Parteien bis hin zu bekannten und weniger bekannten Künstlern auf einen Aktionskonsens und ein klares taktisches Konzept einigen konnte. Beides wurde dank einer brillanten Organisation der Blockaden und großer, vertrauensvoller Einigkeit in der Aktion drei Jahre lang erfolgreich umgesetzt. „Dresden nazifrei“ ist eine Blaupause für erfolgreichen Widerstand in Deutschland.

Aber jetzt kommt es darauf an, diese Erfahrungen auf soziale Themen und den Kampf gegen den Überwachungsstaat anzuwenden. Das ist ungleich schwieriger, und die 20.000 Demonstranten von Dresden werden für dieses Unterfangen nicht ausreichen. Umfragen zufolge sind wir Deutsche ja hochzufrieden mit der Arbeit unserer Regierung. Aber wer fragt da wen? Was muss noch passieren, bis auch wir aus unserem Dornröschenschlaf erwachen und uns beispielsweise der Tatsache stellen, dass die glänzenden Erfolge beim „Abbau der Arbeitslosigkeit“ auf Billiglohn und Zeitarbeit basieren? Wer aber bei einer Zeitarbeitsfirma angestellt ist, hat keinen Arbeitgeber mehr, sondern einen Zuhälter, wie Volker Pispers richtig sagt.

Es hat auch gar keinen Zweck zu hoffen, dass die Krise alle anderen zuerst erwischt und uns verschont. Die Krise ist längst da, nur noch nicht bei allen. Die Einschläge kommen näher. Wenn „Dresden nazifrei“ die organisatorische Blaupause ist, sind 1968 und 1989 deshalb die Vision. Was auch immer jeweils aus diesen demokratischen Eruptionen folgte – und wir meinen, in beiden Fällen überwiegen die positiven Folgen – bei Weitem! –, sie beweisen, dass auch der deutsche Bürger und die deutsche Bürgerin grundsätzlich zur Revolte fähig sind. Es mag lange dauern, bis in diesem alten, schweren Land die Steine ins Rollen kommen und Mauern brechen. Doch dass es möglich ist, wissen wir, wie wir auch um den Abgrund wissen, der sich gähnend vor uns auftut und in den wir alle miteinander stürzen werden, wenn wir nicht schleunigst massenhaft aufbegehren.

Kann man sich nun auch in Deutschland „räumungsfreie Zonen“ vorstellen, wo die örtlichen Behörden die Zwangsräumungen von Wohnungen nicht mehr unterstützen? Bayerische und thüringische Feuerwehrleute, die es ihren Kameraden auf Ibiza und in Galizien oder aragonesischen Schlüsseldiensten gleich tun und sich weigern, bei der Exekution von Räumungsbeschlüssen zu helfen?

Auch in Spanien haben die Allerwenigsten mit solch betörenden Schönheiten einer gesamtgesellschaftlichen Revolte gerechnet. Die Bloggerin María Luisa Toribio schreibt: „Ein großer Teil der Bürger war eingeschlafen und hatte sich enthusiastisch der Rolle hingegeben, die man sich für uns ausgedacht hatte: die der Konsumenten. Nun haben sich neue Bewegungen gebildet, die neue Formen der Bürgerbeteiligung erfinden und einfordern.“

Stolz und Tränen

Sehen wir uns die Schwulen und Lesben an! In einem Tagebucheintrag von 1992 jubelt der Prinz, weil sage und schreibe 10.000 Menschen zum CSD in Berlin kamen. Eine Sensation! Wenige Jahre später waren es auch in Hamburg oder München Hunderttausende. Und ungezählte Einzelne standen im Alltag, im privaten Umfeld, am Arbeitsplatz, in den Schulen für ihre Freiheit und gegen den Rassismus in der Liebe auf. Früher kaum vorstellbare emanzipatorische Fortschritte wurden so erkämpft – aus einer Lage heraus, wie sie nach der AIDS-Katastrophe verzweifelter kaum hätte sein können.

Alles ist möglich, wenn Leute zu sich selbst stehen; wenn sie als Einzelne und als Menge aufstehen für ihre Träume und Rechte; wenn sie mit Stolz und Tränen in den Augen stehen bleiben – und wieder aufstehen, wenn sie niedergeschlagen werden.

Du bist aber allein? Du bist aber machtlos? Soweit wir sehen können, hat Edward Snowden eine sehr einsame Entscheidung getroffen und dann gehandelt. Alleine zu sein und machtlos zu sein, ist durchaus nicht dasselbe. Auch der schweigend anklagende „Stehende Mann“ vom Taksim-Platz hat uns bewiesen, welche moralische Kraft ein einzelner Mensch entfalten kann, der im richtigen Moment die Logik einer Situation versteht und mit dem Mut, das Unvorhersehbare entschlossen auszuführen, durchbricht. Nun haben wir mit dieser Schrift den Bereich der Kunst bisher nicht verlassen, und wir werden es nicht tun, indem wir uns zu präzisen, taktischen Handlungsanweisungen versteigen. Entscheide Du selbst, was Dein Schritt ist, in die globale Revolte einzutreten. Was Du Dir zutraust, was Deine persönliche Farbe und Form der Revolte ist. Revoltiere nach Deiner Melodie.

Wir brauchen und wollen auch – und hier widersprechen wir entschieden dem anderweitig geschätzten Slavoj Žižek – keine charismatischen Führer an der Spitze einer Bewegung. Wir sind von der Notwendigkeit einer wirkungsvollen Organisation der Revolte überzeugt, aber wir vertrauen und setzen mit Antonio Negri auf die Intelligenz der Menge, auf die Selbstorganisation des Schwarms, auf die Macht derer, die sich selbst erkannt und aus freien Stücken miteinander verbündet haben. Es geht eben nicht mehr darum, dass die Einzelnen in einem großen Ganzen vereinheitlicht werden und ihre eigenen Ideen, Geistesblitze und ihre Kreativität einem fertigen Weltbild unterordnen. Wir können viele werden und dabei Einzelne bleiben, die mit all ihrer Eigenständigkeit, Verrücktheit, ja, mit ihrem individuellen Wahnsinn dazu beitragen, die Idee einer wirklichen Demokratie immer wieder neu entstehen zu lassen, selbst zu gestalten.

Wir träumen und streiten für eine aktive Bürgergesellschaft, für eine Bewegung freier, selbstbestimmter Menschen, für eine freie, selbstbestimmte Menschheit! Die Zeit der Propheten, Führer und Tribunen liegt hinter uns. Wir wünschen auch keine blutige Revolution und wollen sogar dieses ungeliebte eine Prozent an der Spitze der globalen Apartheid nicht an den Laternenpfählen aufknüpfen. Wir ersehnen eine Revolution der Liebe, eine zärtliche Revolte.

Nein, wir haben mit dieser Schrift den Bereich der Kunst nicht verlassen. Dass viele unserer Kolleginnen und Kollegen und das breite Publikum von dieser Rolle der Kunst noch kaum etwas ahnen, geht uns nichts an. Wir haben getan und gedenken weiterhin zu tun, was seit jeher das Recht und die Pflicht des Künstlers war: Wir haben der kulturfeindlichen Verkommenheit unserer irrfahrenden Zeit ein längst überfälliges „J’accuse!“ entgegengeschleudert, unser zorniges: „Ich klage an!“ Wir ergreifen Partei, wo Parteien versagen. Auf den „Luxus der Hoffnungslosigkeit“, wie Fulbert Steffensky es genannt hat, verzichten wir dankend. Aber nicht auf den Zorn, und wir bekennen uns mit Steffensky und Dorothee Sölle zur Voreingenommenheit, denn: „Es gibt eine unerlässliche Voreingenommenheit, die die Augen öffnet. Wenn ich nicht voreingenommen bin von dem Wunsch nach Gerechtigkeit, dann nehme ich das Leiden der Gequälten nicht einmal wahr. Voreingenommenheit ist die Bildung des Herzens, die uns das Recht der Armen vermissen lässt. Ein Urteil zu haben ist nicht nur eine Sache des klugen Verstandes und der exakten Schlüsse, es ist eine Sache des gebildeten Herzens. Das gebildete Herz ist nicht neutral, es fährt auf, wenn es die Wahrheit verraten sieht. Der Zorn ist eines der Charismen des Herzens.“

Den vollständigen Aufruf hier downloaden

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1 Kommentar

Georg Schramm zitiert Henry Ford: "Es ist gut, dass die Menschen des Landes unser Geld- und Bankensystem nicht verstehen, denn sonst hätten wir schon Morgen früh eine Revolution!"
Und noch etwas: Dem sogenannten deutschen "Wutbürger" fehlt der Zorn wie wir ihn in den 60ern hatten.

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