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Matritzien, Spargel und Wasserabenteuer

Eine Mainzerin (Bretzenheimerin) erinnert sich. Als Kinder draußen spielten und mit Fantasie alles möglich war! Zwischen Bretzenheim und Zahlbach Anfang Juni 1969...

Die Bach und Nofretete
„Also, was machen wir?“ Erwartungsvoll sieht Carolin ihre Freundin an. Dabei atmet sie tief durch, denn sie liebt den schweren warmen Duft, der aus der offenen Tür der Wäscherei an der Bahnstraße in Bretzenheim entweicht. Es riecht ähnlich wie bei den Omas in der Waschküche, nicht ganz, denn hier schwingt noch eine chemische Note mit.
Auch Solveig holt tief Luft, während sie andächtig die Matritzien betrachtet, die sie gerade bei Frau Hauck gekauft haben: eine Lage Feen mit Silber-Glitzer; eine Lage Körbe mit Blumen. Zwischen den üblichen Rosen stecken Maiglöckchen – gerade noch passend zur Jahreszeit.
„Der Wonnemonat Mai ist vorbei“, haucht Solveig. Also träumt sie wieder.
„Hast du mich gehört?“, fragt Carolin ungeduldig.
Ein wenig benommen blickt Solveig hoch. „Hab ich“, behauptet sie.
„Und?“
Einen Moment sind beide abgelenkt, denn die Acht kündigt sich mit lautem Gebimmel an und fährt kurz danach in die Straßenbahn Endhaltestelle ein.
„Wir gehen zu mir, holen die Barbies, dann runter an die Bach“, fährt Solveig fort.
Klingt nach einem guten, aber in Teilen riskanten Plan.
„Gehen wir bis nach Zahlbach?“, fragt Carolin.
„Dahin, wo immer die Kerb ist?“, fragt Solveig zurück.
Wieder folgt andächtiges Schweigen. Was sie vorhaben, will gut überlegt sein. Durch die Lindenmühle bis zum Zahlbacher Kerbeplatz zu laufen, ist erlaubt. Aber sie wollen ja ans Ufer der Zaybach. An die Bach zu gehen, ist bei den Erwachsenen verpönt; in die Bach zu gehen, ist strengstens verboten. Dazu kommt es dann aber meistens, wenn man sich dem Bachufer nähert. Allerdings scheint unter den Eltern eine Art stillschweigende Übereinkunft zu herrschen, dass über diesbezüglichen Ungehorsam hinweggesehen wird, wenn nichts passiert und die heimkehrenden Kinder nicht nach Puddel stinken.
Also auf jeden Fall muss ihre Unternehmung geheim bleiben und sie müssen zusehen, dass sie nicht den Geruch des oftmals schäumenden Bachs - mal gelb, mal grün schillernd - annehmen.
Jetzt blitzen Solveigs Augen. „Was hältst du davon, wenn wir die Barbies mit den ägyptischen Augen nehmen und das Floß, das mein Cousin gebaut hat? Dann …“
„… setzen wir die Pharaonin, die Prinzessinnen und Dienerinnen auf die königliche Barke“, unterbricht Carolin mit großer Begeisterung.
„Und die machen alle zusammen eine Fahrt auf dem Nil“, beendet Solveig den Gedankengang.
Einige von ihren Barbies, die mit dunklen Haaren, wurden verändert. Mit Kuli bekamen sie einen Lidstrich verpasst wie Nofretete, soweit möglich wurde ihnen ein Pagenkopf geschnitten. Abendkleider ließen sich mit etwas Fantasie leicht in ägyptische Gewänder verwandeln. Ringe von den Kulis - die in der Mitte - geben prima Armbänder ab; abgeknipste bunte Stecknadelköpfe dienen als Ohrringe.
Seit die Klassenlehrerin den Schülern ihrer vierten Klasse von den Pharaonen erzählt und Bilder gezeigt hat, sind Solveig und Carolin begeistert. Ständig denken sie sich Geschichten aus. Alles, was sie über Pharaonen und das Alte Ägypten gehört haben, egal wo, wird dramaturgisch umgesetzt. Gerne spielen sie Szenen nach, so auch die Rettung des kleinen Moses in seinem Körbchen durch die Tochter des Pharao.
Dass Solveigs großer Cousin im Werkunterricht dieses Floß, so groß wie eine Schachtel Trumpf-Pralinen, gebaut und seiner kleinen Cousine geschenkt hat, ist ein Glücksfall.
Darüber, dass sie in dieser Inszenierung in die Bach müssen, denken sie nicht weiter nach. Es wird schon gut gehen.

Spargel!
„Kinder, wo wollt ihr denn hin?“ Lächelnd steht Solveigs Mutter in der Küchentür.
Hinter ihr auf dem Küchentisch ist eine Unmenge Spargel angehäuft.
Innerlich stöhnt Carolin. Spargelzeit! Die Erwachsenen drehen durch, reden dauernd über die Vorzüge der ersten Sorte gegenüber der zweiten Sorte oder umgekehrt. Und die Kinder müssen das pissige Zeug ebenfalls essen. Häufig wird nur knapp geschält, weil die Königin der Gemüse schweineteuer ist. Also kaut man ständig auf holzigen Fasern rum. Bäh! Das einzig Gute an der Spargelzeit sind die Erdbeeren.
„Wir gehen ins Gartenhäuschen“, erwidert Solveig artig. In dem Häuschen ganz hinten in dem riesigen Garten spielen sie oft. Also klingt das absolut glaubwürdig.
Immer noch lächelnd nickt Solveigs Mutter. „Mit dem Korb voller Barbies?“
„Genau“, bestätigt Solveig.
„Ja“, bekräftigt Carolin.
„Ach, habt ihr es gut“, seufzt die Mutter. Aber es ist noch nicht vorbei. Sie richtet ihren strahlenden Blick auf Carolin: „Wo holt ihr den euren Spargel?“
„Beim Bauer Zeh oder beim Bauer Stauder“, antwortet sie gequält.
„Wir gehen zur Frau Weyer.“ Mit diesen Worten dreht sich Solveigs Mutter um und geht zurück an ihren Spargeltisch. „Viel Spaß!“, fügt sie noch hinzu.
Nichts wie weg.

Malheur am Nil
„Ob das klappt?“ Solveig setzt sich neben ihren vollgepackten Korb an das leicht abschüssige Ufer der Zaybach am Beginn des Milchpfades, genau an der Stelle, wo die Bach unter einer schmalen Überführung wieder hervortritt. Der Wasserstand ist sehr niedrig – das ist gut. Die Farbe ist komisch-grün – das ist weniger gut. Eine Mischung aus Puddel und Fichtennadeln liegt in der Luft.
Auch Carolin hegt mittlerweile Zweifel. Diese Stelle ist ziemlich sicher, weil das Ufer nicht allzu steil abfällt. Man kann da gut hocken und fühlt sich irgendwie geschützt. Auch ist die Zaybach hier nicht so breit. Mit etwas Geschick und Mut ist es sogar möglich, von einer Seite zur anderen zu springen.
„Das mit dem Floß funktioniert nicht“, stellt Solveig fest.
Und da hat sie recht. Es würde natürlich irgendwann losschwimmen - mit Barbies drauf.
„Wir lassen das“, stimmt Carolin zu. „Wir spielen, dass die Töchter von Pharao Ramses am Nil sitzen, in die Fluten schauen und über Prinzen reden.“
Gesagt, getan. Die Rolle der Pharaonin ist nicht besetzt, weil sich die Regisseurinnen nicht darüber einig werden konnten, wer die entsprechende Barbie kriegt. Es dauert eine Weile, bis sechs Barbies mit ägyptischen Augen, Pagenkopf und luftigen Kleidern nebeneinander im Gras sitzen und ihren starren Blick in die Fluten richten. Solveig und Carolin setzen sich rechts und links von ihnen. Jede spricht für drei Barbies. Das Floß bleibt im Korb.
„Kleopatra, hast du den Prinzen aus Babylonien getroffen?“, flötet Solveig.
„Wieso Kleopatra?“, beschwert Carolin sich. „Wir haben doch nachgelesen, dass die viel später gelebt hat als Ramses und seine Frauen.“
„Ist doch egal“, stöhnt Solveig genervt, „der Name klingt so schön ägyptisch.“
„Na ja, es stimmt halt nicht“, meckert Carolin und drückt eine Brutsche. So was kann sie gar nicht haben. „Welche von deinen ist denn Kleopatra?“, setzt sie missmutig nach.
Solveig greift die mit dem schönen blau-türkisen Kleid und hält sie hoch. Genau in diesem Moment donnern drei Fahrräder über ihnen auf den Milchpfad.
„Machd de Wesch frei!“, grölt einer.
„Miä komme!“, donnert ein anderer.
Solveig erschrickt, rutscht ein kleines Stück Richtung Wasser. „Oh, oh!“, kreischt sie und fuchtelt mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Kleopatra fällt – in die Bach.
„Die Mädschä spiele mit ihre Bobbe!“, lacht der Junge, der gerade mit seinem Fahrrad in den Milchpfad eingebogen ist, der parallel zur Zaybach verläuft. Er ist einer der Großen, ungefähr dreizehn.
„Ach, wie goldisch!“, unkt sein Kumpel.
Der dritte im Bund lacht nur schallend, als er vorbeirast. Die Jungs rasen den Pfad entlang. Solveig hat ihren Schock überwunden und kocht offensichtlich vor Wut. Carolin kriegt vor Aufregung Schluckauf. Dann besinnen sie sich auf Kleopatra.
„Hinterher!“, ruft Solveig. Ihre Stimme hat einen leicht hysterischen Unterton.
„Schnell!“, bekräftigt Carolin.

Showdown vor der Mut-Höhle
Im breitbeinigen Lauf folgen sie der Barbie, die gerade etwas weiter vorne zwischen zwei Steinen festhängt. Nach wenigen Schritten ist klar, dass es so nicht weitergeht. Die Bach wird breiter. Die Strömung zerrt an Kleopatra, schon wird sie wieder von den Fluten mitgerissen. Mittlerweile übertrifft der Puddelgestank die Fichtennadelnote.
Solveig schafft es, früh genug zu stoppen und aus der gespreizten Beinhaltung rauszukommen. Carolin gelingt das nicht. Sie rutscht mit einem Fuß ins Wasser, zieht den anderen nach, weil es jetzt sowieso egal ist. Mit nassen Füßen krabbelt sie die Böschung hoch. Ihre Freundin schenkt ihr einen mitledigen Blick. Es hätte sie ebenso gut treffen können. Kleopatra schaukelt in den Schaumkronen der gelb grünen Brühe. Dabei nimmt sie deutlich an Fahrt auf.
„Weiter!“, befiehlt Solveig.
Obwohl es keinen Sinn macht, rennen sie neben der Zaybach entlang, lassen Kleopatra nicht aus den Augen. Genau dies ist das Spiel und das Abenteuer. Sie rennen, was das Zeug hält. Der Wind weht ihnen um die Nasen. Kleopatra mag untergehen, aber sie wird dabei nicht alleine sein.
Etwas weiter vorne tut sich etwas und das sieht nicht gut aus. Von rechts fahren in einiger Entfernung zwei Fahrräder Richtung Bachufer. Abrupt bleiben Solveig und Carolin stehen.
„Die sind auch älter“, japst Solveig.
„Die eine heißt Ursula, die kenn ich“, schnauft Carolin. „Die geht in die sechste. Den Kerl auf dem anderen Rad kenn ich nur vom Sehen.“
Die beiden Radfahrer bremsen haarscharf etwa fünf Meter vor ihnen. Besagte Ursula wirft ihnen einen Blick zu. Lächelt sie etwa? Das ist ja fast gegen die ungeschriebene Regel. Die Größeren sind eigentlich mit Vorsicht zu genießen!
„Die wollen über die Bach springen und dann rauf in die Höhle“, haucht Solveig. Vor Ergriffenheit zittert ihre Stimme ganz leicht.
„Oh Mann!“ Carolin läuft ein Schauder über den Rücken.
Die Höhle! Dorthin gelangt man nur, wenn man an einer ziemlich breiten Stelle über die Bach springt und dann schnell den Hang hochkraxelt, mit dem Gewicht nach vorne, sonst rutscht man unweigerlich zurück, direkt in die Dreckbrühe. Unter den Älteren gilt das als Mutprobe.
Atemlos beobachten Solveig und Carolin, was geschieht. Die Lage spitzt sich zu, als in dem Höhleneingang eine große schlaksige Gestalt erscheint, dahinter tauchen zwei weitere Schemen auf. Die Höhle ist also besetzt – von den drei Raudis, die an Kleopatras Schicksal schuld sind. Mehr Leute passen nicht rein.
„Haut ab“, brüllt der Große.
„Der heißt Uwe“, wispert Solveig. „Der geht schon aufs Gymnasium in Mainz. Aber vorher war er auf der Grundschule in Zahlbach.“
Nicht zu fassen – einer der Bretzenheimer, der in Zahlbach in die Schule ging!
„Meine Oma hat erzählt, dass sich die Bretzenheimer und die Zahlbacher Jungs früher immer gekloppt haben“, flüstert Carolin.
„Wo?“ Solveig reißt die Augen auf.
„Ich glaub, auf dem Kerbeplatz oder da bei der Zahlbacher Turnhalle“, erwidert Carolin in verschwörerischem Ton.
„Mach disch weg, Kärl, und nemm däss Medsche mit!“, dröhnt Uwe.
Ursulas Begleiter gibt sich unbeeindruckt. „Wir können hier fahren und rumstehen, wie wir wollen“, erwidert er auf hochdeutsch.
„Bisd enn Vornehme. Was, Kärl?“, donnert Uwe. Seine Kumpel lachen.
Aus em vornehme Väddel velleischd?“, grölt einer der Höhlenbesetzer. Wieder folgt schallendes Gelächter.
„Das ist mir zu blöd“, sagt der Hochdeutsche.
„Mir auch“, pflichtet Ursula bei.
Als sie jetzt ihre Räder wenden und weiter Richtung Zahlbach fahren, verlassen sie die Szene nicht als Verlierer. Sie sind diejenigen, die einen kühlen Kopf bewahrt haben, also stille Helden.
„Viel Spaß!“, schmettert Uwe ihnen hinterher.
Zufrieden postieren sich die drei in ihrer Höhle. Auch sie sind keine Verlierer, sondern diejenigen, die das Abenteuer suchen und bereit sind, etwas zu riskieren.
„Ach!“ Solveig seufzt. „Schon vorbei.“
„Und Kleopatra ist weg.“ Carolin seufzt ebenfalls.
Noch leicht bebend nach dem gerade Erlebten gehen sie schweigend zurück zu den Prinzessinnen. Eine hat den Ausflug zum Nil nicht überlebt.
„Wir stinken bestimmt“, stellt Carolin fest.
„Klar“, bestätigt Solveig.

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