"Apostel mit Lesebrille" - Kunstbetrachtung in der Lübecker Marienkirche
Ein Gitter versperrt aus Sicherheitsgründen in der Lübecker Marienkirche die Marientidenkapelle, die sich am östlichen Chorumgang befindet. Der berühmte Antwerpener Marienaltar von 1518, der zur ehemals reichen Kunstausstattung von St. Marien gehört, kann deshalb gewöhnlicherweise von den Besuchern nur aus größerer Entfernung betrachtet werden.
Der doppelflügelige Altar mit der vergoldeten Holzschnitzerei der Spätgotik zeigt Szenen aus dem Leben Jesu und seiner Mutter Maria, wobei im Mittelpunkt der Schnitzarbeiten der Marientod dargestellt ist. Maria liegt, umgeben von Angehörigen und Aposteln, auf dem Totenbett.
Besonders fällt der Apostel auf, der – wie es scheint - eine Sonnenbrille trägt. Doch der Apostel mit der Brille ist keine spätere Beigabe, sondern die Antwerpener Holzschnitzmeister verwiesen darauf, dass es die Lesebrille, die als Sehhilfe auf die Nase gesetzt wurde, bereits im 13. Jahrhundert gab.
Das an mehreren Figuren am Kopf und zwischen den Füßen eingebrannte Händchen stellt das Handwerkerzeichen Antwerpens dar. Die Szene Mariä Himmelfahrt, die sich über dem Marientod befand, wurde 1945 gestohlen.
Der Lübecker Kaufmann Johann Bone, der aus Geldern stammte, hatte 1522 den Altar für die Marientidenkapelle gestiftet. In den folgenden Jahrhunderten wurde dieser Antwerpener Altar mehrfach in der Kirche umgestellt, und weil er während des Zweiten Weltkriegs in der Briefkapelle stand, entging er der Zerstörung.