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Abfahrt Jenseits (Kapitel 1)

1.Kapitel

Ich blickte ihr tief in die Augen

„Noch, noch da? -

Oh mich Vergesslichen! Nein, nein; da ist

Er schwerlich mehr. – Er wird dort unten bei

Dem Kloster meiner warten; ganz gewiss.

So redten, mein’ ich, wir es ab. Erlaubt!

Ich geh’, ich hol’ ihn…“

„Stopp, Stopp! So geht das nicht. Raffael, du musst am Ende der Passage die Daja angucken und nicht Recha. Das haben wir doch schon x-Mal durchgesprochen.“

„Ja, Frau Sickart. Entschuldigung, ich hatte es vergessen.“

Ich tat so, als würde ich schuldbewusst die Augen senken, blickte aber aus den Augenwinkeln immer noch zu Recha. Raikja lächelte.

„Aber genug für heute, die Probe ist beendet“

Sofort sprangen alle von ihren Plätzen auf, stürmten durcheinander um ihre Sachen zusammenzusuchen und fingen an herumzuschnattern. Raikja kam auf mich zu. Ich nahm sie in den Arm.

„Du sollst nicht meinetwegen deine Rolle schlecht spielen. Das war heut schon das achte Mal“

Ihre Stimme schnurrte in meinem Ohr. Dann war Raikja plötzlich verschwunden und ich stand alleine auf der Bühne. Ich blickte auf mein Textbuch in der Hand, „Nathan der Weise“. Seit drei Monaten versuchten wir uns nun schon an dem Stück, welches Frau Sickart unbedingt am Ende des Schuljahres mit uns aufführen wollte. Keiner bis auf Frau Sickart glaubte daran, dass wir das schaffen würden. Ich sollte den jungen Tempelherren spielen, aber so wie es im Moment aussah, war ich während den letzten Proben fast schon zur Zweitwahl abgerutscht. Doch wie soll ich mich auch konzentrieren, wenn sie genau neben mir steht. Ich war schon froh, wenn ich meinen gesamten Text auf die Reihe bekam, ohne dass ich mehr als drei Mal raufgucken musste.

Eigentlich gefiel mir die Geschichte. Besonders, dass ich den Tempelherren und Raikja die Recha spielte. Am Anfang hatte ich sie kaum beachtet. Sie war damals wie alle anderen Mädchen in der Theatergruppe auch. Und es dauerte auch eine Weile bis ich merkte, was an Raikja so besonders war. Sie konnte zuhören. Wenn jemand etwas erzählte, saß sie schweigend daneben und beobachtete den Redenden. Und einmal hatte ich etwas zu erzählen. Mein Großvater war gestorben und ich brauchte einen, der mir half, das Geschehene zu verarbeiten. Eigentlich sprach ich mit Jannik, aber der drehte sich ständig weg, um gleichzeitig bei anderen Gesprächen sinnlose Kommentare zu machen. Er war sich nicht der Wichtigkeit, die dieses Thema für mich hatte, bewusst

Er bemerkte es nicht. Aber auf einmal fiel sie mir auf. Sie saß mit angezogenen Beinen auf dem Teppich, hatte das Kinn auf die Knie gelegt und wippte leicht vor und zurück. Und sie blickte mich an. Sie wandte auch den Blick nicht ab, als ich ihr ebenfalls in die Augen schaute. Ich wusste sofort, dass sie mir zugehört hatte und wie sehr ich von dem betroffen war, was ich gesagt hatte. Ich war irritiert von ihr und drehte mich wieder weg. Doch immer öfter wanderte mein Blick an diesem Nachmittag zu ihr zurück und auch während den folgenden Proben ertappte ich mich immer wieder, wie ich sie beobachtete. Sie lachte und scherzte mit den anderen und in ihren Augen blitzte es des Öfteren schelmisch auf, doch wenn sie meinte nicht beobachtet zu werden, wurde ihre Miene ernst und ihr Blick richtete sich auf etwas, was in sehr weiter Ferne liegen musste. Vielleicht eine andere Welt.

Schmale Finger ergriffen mich am Handgelenk und ich merkte, dass ich noch immer auf der Bühne stand.

„Komm! Wir müssen langsam los.“

Ich ließ mich wortlos von ihr zu unseren Sachen ziehen. Dann war ich auch mit den Gedanken wieder vollkommen in der Gegenwart angelangt. Ich zog ihr leicht an ihrem braunen Pferdesschwanz. Lachend drehte sie sich um. Sie schüttelte den Kopf, warf sich ihre Tasche über die Schulter und mit einem spöttischen Blick, wo ich denn bliebe, ging sie zur Tür.

Als auch ich dann endlich fertig war, gingen wir Hand in Hand durch die Straßen zu mir nach Hause. Missmutig schaute ich zum Himmel. Es sah nach Regen aus. Bis jetzt waren es nur dicke graue Wolken, doch spätesten heute Nacht würde es aus diesen gießen wie aus Kübeln.

Ich versprach ihr, sie nach Hause zu bringen. Wieder einmal waren Raikjas Eltern dagegen, dass sie bei mir übernachtete. Obwohl wir fanden, dass sie ja wenigstens bei diesem Regen mal eine Ausnahme hätten machen können.

So gingen wir durch den Regen, bei dem es so aussah, als kündigte er die nächste Jahrhundertflut an und auch der Wind pfiff uns die ganze Zeit um die Ohren. Die wenigen Autos, denen wir begegneten, fuhren im Schritttempo und hatten die Scheibenwischer auf Höchststufe gestellt.

Wir gingen schweigend - unsere Hände in einander verschränkt. Vor ihrem Haus blieben wir stehen und sie drehte sich zu mir um. Ihre Haare dufteten verführerisch nach Regen und ich zog sie zu mir heran. Sie lehnte ihren Kopf gegen meine Schulter und keiner von uns wagte es, die Stille zu durchbrechen. Es war auch gar nicht nötig. Welche Worte können die Liebe schon beschreiben? Mir viel ein Liedtext von den Toten Hosen ein:

Wo ist der Ort für den ehrlichsten Kuss

Ich weiß, dass ich ihn für uns finden muss

Auf ´ner Straße im Regen

Auf ´nem Berg nah beim Mond

Oder kann man ihn nur vom Totenbett hol’n

Die Worte klangen nach Abschied und ich presste Raikja noch näher an mich. Ich wollte sie nie mehr loslassen. Der Regen, der Wind waren mir egal. Wenn wir nur ewig hier stehen könnten.

Natürlich ging das nicht und irgendwann fing sie an vor Kälte zu zittern und wir beschlossen diesen Moment aufzulösen.

Quelle: www.tessa27.de.tl

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