Die Friedhofslinde
Nachdem gegen Ende der 1950er Jahre die Friedhofskapelle gebaut war, wurde an ihrer Nordwest-Ecke eine Linde gepflanzt.
Als mein Vater 1965 starb, war sie noch ein unscheinbarer junger Baum. Bei Grabbesuchen führte mein Weg an ihr vorbei. Ab der Linde waren es genau 36 Schritte. Die Zahl habe ich mir eingeprägt, weil das Grab inzwischen eingeebnet wurde und ich dessen genaue Lage in Erinnerung behalten wollte.
Die Linde hatte sich im Laufe der Zeit gut entwickelt. Ihr Stammdurchmeser betrug zuletzt 80 cm. Vor ungefähr 10 Jahren fing sie an zu kränkeln. Die Krone wurde stellenweise nicht mehr richtig grün, Zweige verdorrten und brachen ab, Bruchstellen fingen an zu faulen.
Der heiße, trockene Sommer des Jahres 2018 ließ das Laub vertrocknen. Ihr Zustand war schlecht. Sie hatte zwar den orkanartigen Sturm am 09.08.2018 überstanden, aber niemand wusste, wie es um ihre Standfestigkeit bestellt war.
Zum Schutz der Friedhofsbesucher entschloss sich der Kirchenvorstand, den Baum zu fällen.
Im September wurde die Kettensäge angesetzt. Dabei stellte sich heraus, dass der Stamm zwar noch einigermaßen intakt war, der Fäulnisprozess aber fortschritt.
Den Fall des Baumes hatte ein Hornissennest, das sich in einer morschen Baumhöhle befand, unbeschadet überstanden. Die Hornissen flogen unbeirrt ein und aus. Der Kirchenvorstand brachte ein Schild mit dem Hinweis an, dass die Reste des Baumes aus naturschützerischen Gründen erst entfernt werden, wenn die Hornissen abgestorben sind. Das dürfte im Spätherbst durch Nahrungsmangel und einsetzende Fröste geschehen. Überleben wird nur die Königin. Sie sucht sich ein Winterquartier um im kommenden Frühjahr auszufliegen und ein neues Volk zu gründen.
Alexandra (*1942 †1969) sang im Jahre 1968 "Mein Freund der Baum, der Baum ist tot, er fiel im frühen Morgenrot ..."
Nichts lebt auf Erden ewig. Was lebt muss sterben. Für derartige Gedanken ist der Friedhof der passende Ort, das Geschehen um die Linde ein geeigneter Aufhänger.
In Vers 12 des 90. Psalms steht geschrieben: "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden".
Wilhelm, das ist eine wahrhaft berührende Geschichte,
hab Dank, auch für die großartigen Bilder !
VG, Romi