An der Rössinger Beeke
Nur wenige Schritte von der Haustür entfernt führt die Brücke über die Beeke. So nennen die Bewohner des Dorfes den Bachlauf, der ihren Ort durchfließt. Langsam und ruhig gleitet sein Wasser dahin.
Die jungen Beine des Knaben sind flink, und obwohl er gleich hinter der Brücke den Weg am linken Bachufer entlang nur schlendert, kommt er schneller voran als die auf dem Wasser nebenan schwimmenden Blätter, Blasen oder sonstigen Schiffchen. Zu seiner Rechten ist das Ufer mit Gras bewachen, zur Linken hinter niedrigem Gesträuch spiegelt sich das Licht der Sommersonne auf der Wasseroberfläche des Schlossgrabens.
Es ist der erste Sommer nach Kriegende. Der kleine Junge hatte sich von den aufregenden, sein junges Leben bedrohenden Ereignissen im Jahr 1945 erholt. Die beängstigen gefahrvollen Erlebnisse waren in den Hintergrund gerückt. Die zerbombte Stadt, in der er bisher wohnte und zur Schule ging, spielten keine Rolle mehr. Das Gestern vergessen, fast vergessen auch die Schule. Nun spielte sie ihn keine Rolle mehr. Sein neuer Spielplatz, seinen Tummelplatz, hatte er an den Ufern der Gewässer des Dorfes gefunden, den Namen Beeke bald als anderes Wort für Bach verstehen gelernt und an den Ufern viele interessante Neuigkeiten entdeckt. Da gab es Kaulquappen, junge Fischlein, Wasserflöhe für den kleinen Jungen am Ufer des Schlossteichs. Es gab vieles spielend zu beobachten. Neuentdeckungen und lehrreich war das allemal. Kein Tag war wie der vorhergehende. Für ihn gab es kein Gestern, nur die Gegenwart.
Manchmal kamen Knechte oder die jungen Söhne der Bauern mit Ackerpferden, führten die am Zügel oder gern auch reitend ins Wasser. Eine Pferdewaschung, die Mensch und Tier gleichermaßen guttat.
Solch ein Pferdebad war für das einstige Stadtkind etwas völlig Neues. Es fand nahe dem Mühlenwehr noch seinen bevorzugten Ort. Dicht am Weg, der oben vom Damm zwischen Bach und Schlossgraben zum Kolk hinabführte, hatte sich ein Rinnsal sein Bett in den Hang gegraben. Nur handbreit tief und kaum viel breiter bot es sich an, darin zu matschen. Mit einigem Geschick gelang es aus dem Matsch einen Damm zu bauen. Neben dem Wehr des Müllers entstanden so spielerisch angelegte Stauwerke.
Mit einem solchen war der schwarz gelockte Knabe beschäftigt, als ihn ein großer fremder Mann ansprach. Verschämt hatte der Kleine zunächst den Fremden gar nicht beachten wollen, hörte er doch oft genug vorbeigehenden Bekannten sagen: “Igitt, so ein Matsch. Rolf, du bist doch schon so groß.”
So trat der fremde Mann nicht auf. Er schaute einen Moment zu, bevor er sagte “Nah, das macht wohl Spaß. Wie heißt du denn?” Die bereitwillig ehrliche Antwort schien ihm nicht recht. “Nein, du heißt Rolf Schulte und ich - ich bin dein Onkel Karl. Wo wohnt denn deine Mutter?” Der kurze Weg war mit wenigen Worten beschrieben. Der drohende Dammbruch musste mit einer Handvoll Matsch verhindert werden.
Aus vergessenen Zeiten hatte der kleine Rolf viele Onkel und Tanten mit so vielen Namen aus vergessenen Tagen. Und er selbst: Er hieß tatsächlich nicht so, wie man Dorf glaubte. Dort kannte man ihn nur unter dem Nachnamen seines Stiefvaters. Schließlich hieß seine Mutter ja ebenfalls so. Seinen leiblichen, richtigen Vater kannte er nur von Fotos und durch Erzählungen seiner Mutter. Sein “Papa” war längst ein ganz anderer geworden.