Flucht / Lampedusa und Ostpreußen
Im Jahr 2013 hatte ich eine vielbeachtete Ausstellung zusammen mit dem Künstlerpaar Tina Deininger und Gerhard Jaugstetter. Da das Thema immer noch bzw. immer wieder aktuell ist hier meine Eröffnungsrede:
Das Jahrhundert der Flüchtlinge
Das 20. Jahrhundert bis hinein ins 21. Jahrhundert hat den unrühmlichen Ruf als das Jahrhundert der Flüchtlinge. Zu keiner anderen Zeit haben sich mehr Menschen auf den Weg gemacht, haben ihre Heimat verlassen oder wurden vertrieben, gezwungen, alles hinter sich zu lassen. Am Beginn des Jahrhunderts wurden im Zuge des Nationalismus ganze Völker regelrecht „verschoben“. Während des dritten Reiches geschah dies auf noch viel brutalere Art und Weise. Als Resultat des Vernichtungskrieges der deutschen Wehrmacht mussten fast 20 Millionen Menschen ihre Heimat in Ostpreußen, Schlesien usw. verlassen, 14 Millionen kamen im Westen an und mussten dort integriert werden. Diese Flüchtlingsbewegungen ebbten danach nie wieder ab. Im Zuge des kalten Krieges flohen viele Menschen vor der Unfreiheit ihrer Regime und riskierten dabei oft ihr Leben. Die Ungleichheit der Lebensbedingungen auf der Welt, Hunger aufgrund von Naturkatastrophen führte zu weiteren Flüchtlingsbewegungen. Das Problem der großen Wanderungsbewegungen wurde vielmehr im Zuge der Globalisierung in die sogenannte Dritte und Vierte Welt verlagert.
Eine Flucht ist das ungeordnete, teilweise panische Zurückweichen vor einem Feind, Angreifer, Gefahr oder einer Katastrophe (z. B. Naturkatastrophe). Statt einer (möglicherweise ziellosen) Bewegung weg von einer Bedrohung kann Flucht auch definiert sein als das Aufsuchen eines Zufluchtsortes, der Schutz und Sicherheit verspricht. So ist die Definition in verschiedenen Nachschlagewerken.
Oft müssen Flüchtlinge innerhalb kürzester Zeiträume alles aufgeben, ihr letztes Hab und Gut – oder das was sie mit sich tragen können – zusammenpacken. Menschen fliehen, weil sie verfolgt werden, weil in ihrer Heimat Krieg herrscht, weil materielle Not ihnen keine Aussicht auf Zukunft für ihre Kinder gibt. Ankunft ist das einzige Ziel der Flüchtlinge, alles andere wird diesem untergeordnet.
Der Soziologe Wolfgang Sofsky hat sich in seinem Buch „Traktat über die Gewalt“ sehr intensiv mit dem Problem der Flucht auseinandergesetzt. Demnach hat die kollektive Flucht ganz eigene Gesetze. Die Angst verteilt sich auf viele Schultern Jeder zieht den anderen mit, wer stürzt wird aufgerichtet. Wer schwächer oder langsamer ist, wird von den anderen gestützt oder vorwärts geschoben. Aber je länger die Flucht dauert, hat auch er erkannt, zerreißt irgendwann das Band der Solidarität und das oben Beschriebene wird drastisch ins Gegenteil verkehrt.
Von der Flucht am Ende des zweiten Weltkrieges gibt es oft noch Zeitzeugen, denen in der Nachkriegsgesellschaft aber oft die Sprache fehlte für das Grauen oder aber es aus politischen Gründen nicht opportun erschien, ihnen zuzuhören. Es gibt viele Bilder, die von diesem Geschehen kursieren, die so oft reproduziert wurden, dass sie fast zu einem kollektiven Bildergedächtnis geworden sind. Diese kollektiven Bilder sind ein Ersatz für die Bilder der eigenen Geschichte, deren Teil auch ich bin. Diese Bilder habe ich aus dem Internet recherchiert und vergrößert als Malvorlage. Aber die Vergrößerung sorgte nicht für eine größere Klarheit, sondern bewirkte das Gegenteil.
Ich male keine Bilder von der Flucht, sondern untersuche, wie Erinnerung entsteht. Ich bin zu jung, um Bilder über die Flucht malen zu können. Ich kann deshalb nur die Bilder von der Flucht malen.
Ganz anders meine Kollegen, die direkt vor Ort Zeugen eines gegenwärtigen Flüchtlingsdramas waren, dass sich quasi direkt vor unserer Haustür abspielt. In Europa haben wir es vor allem mit Flüchtlingen aus dem nördlichen und mittleren Afrika zu tun. Für viele der Flüchtlinge ist die Insel Lampedusa südlich von Sizilien das „Tor zu Europa“ und die kürzeste Passage über das Mittelmeer, um zu uns zu gelangen. Nach mehrtägigen Überfahrten auf hoffnungslos überfüllten, klapprigen Booten, kommen die Flüchtlinge, unter ihnen auch viele Kinder, völlig entkräftet, aber voller Hoffnung auf ein besseres Leben auf der Insel an. In den letzten Jahren ereigneten sich Katastrophen mit vielen Opfern und ungezähltem Leid. Nach Tagen der Todesangst erreichen sie das „Gelobte Land“, wo sie sofort aufgeteilt werden: in die wenigen, die vielleicht in einem europäischen Land geduldet werden, aber vor allem in die, die so schnell wie möglich wieder zurück in ihre sogenannte Heimat müssen. Allein im Katastrophenjahr 2011 kamen beim Versuch der Überquerung ca. 1.500 Menschen ums Leben oder sind spurlos verschwunden.
Die Flüchtlinge hinterlassen nur wenige Spuren auf der Insel aber auch in der europäischen Zivilisation. Von den überlebenden Flüchtlingen blieben oftmals noch nicht einmal die Fußspuren im Sand, so wie die Ihren hier wieder verschwinden werden. Meine beiden Künstlerkollegen haben diese wenigen Spuren direkt vor Ort aufgezeichnet, auch wenn sie dort diversen Hemmnissen ausgesetzt waren, und haben damit das Schicksal der Flüchtenden vor dem Vergessen bewahrt. Diese Spuren sind Zeugnisse ihres tragischen Schicksals. Auch sie werden mit der Zeit verschwinden.
Niemand verlässt leichtfertig seine Heimat, niemand bricht so einfach alle Brücken hinter sich ab, niemand begibt sich in Lebensgefahr, ohne zu wissen, was ihn erwartet. Gerade aufgrund unserer Geschichte der Flucht ist es umso notwendiger, dass wir das Fliehen der Menschen heutzutage nicht ausblenden und uns ihres Schicksals annehmen. Das ist auch die Quintessenz der Erziehung, die ich von meiner Mutter, die selber aus Ostpreußen fliehen musste, übernommen habe. „Das, was ich erlebt habe, darf sich niemals wiederholen“ sagte sie ohne Groll auf die russischen Verfolger.
Oft sind bei solchen Fluchten die schwächsten in der Kette auch die ersten Opfer, die Kinder. Bei der Flucht aus Ostpreußen blieb im kalten Winter noch nicht einmal die Bestattung der Kinder im zugefrorenen Boden. Vielmehr wurden die Leichen in Kartons verpackt und an die Straßenbäume gestellt. Dies sollte wenigstens ein rudimentärer „Schutz“ der toten Seelen sein. Jeder, der später vorbeikam, wusste, was sich in den Kartons befindet, ohne nachschauen zu müssen. Die hier ausgestellten Kartons können ruhig bewegt werden, können geöffnet werden.
Um Max Beckmann zu zitieren: „Kunst dient der Erkenntnis und nicht der Unterhaltung“.
Die amerikanische Fototheoretikerin Susan Sontag hat in ihrem Buch „Das Leiden anderer betrachten“ das Dilemma aller Kunst und Dokumentation, die sich mit solchen Themen beschäftigen, dargelegt. Der maßlose Gebrauch von Bildern stumpft auf der einen Seite gegenüber dem Leid anderer ab, aber die bildliche Darstellung ist auf der anderen Seite nun mal das wirkungsvollste Instrument, wenn es darum geht, das Leiden überhaupt darstellbar zu machen und bei anderen Menschen Empathie zu wecken. Das Problem sei, dass sich die Menschen nicht mehr anhand der Fotos erinnern, sondern sich stattdessen an Fotos erinnern. Auf der anderen Seite ist es aber so, dass Leid, von dem keine Fotos existieren, vergessen wird. Die Opfer wollen, dass wir ihre Leiden sehen, nur so hat ihr Leiden einen Sinn.
„Gerade jetzt müssen wir uns den Menschen so nah wie möglich stellen. Das ist das einzige was unsere eigentlich recht überflüssige und selbstsüchtige Existenz einigermaßen motivieren kann.“ So hat Max Beckmann das Wesen und den Sinn der Kunst beschrieben. An anderer Stelle schrieb der große deutsche Maler, dass „das Mitgefühl an den Mitmenschen wieder hergestellt werden müsse“.
Oder wie Käthe Kollwitz in ihren Tagebüchern schrieb:
„Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind“
Vielen Dank.