Kinder im Krieg - Die Eröffnungsrede von R.F. Myller
Diese Rede hielt ich am 04. März zur Eröffnung meiner Ausstellung "Kinder im Krieg" bei radio Leinehertz.
Meine Mutter wurde 1944/45 im Alter von 14 Jahren mit ihren jüngeren Geschwistern, der Mutter und Großmutter aus Ostpreußen vertrieben. Bei der Flucht über die vereiste Ostsee starb ihre eigene Mutter. Dabei hat sie viele schlimme Dinge gesehen, von denen sie später oft berichtete. Nur über die Dinge, die ihr selbst widerfahren sind, hat sie nicht gesprochen. Ihr Vater war zu der Zeit in Russland in Kriegsgefangenschaft und kehrte erst in den 50er Jahren zurück.
Dies alles hat sie mir und meinen älteren Geschwistern immer wieder ohne Groll erzählt. Kein Hass auf die damaligen Verfolger, sondern immer nur Dankbarkeit überlebt zu haben. Und noch viel wichtiger: sie hat es immer wieder erzählt, damit wir wissen, dass sich so etwas nie wiederholen darf. Für die im letzten Jahr Verstorbene waren die Bilder aus Syrien immer unerträglich. Weil sie genau wusste, was diese Menschen fühlen, denken, was in Ihnen vorgeht.
Niemand verlässt leichtfertig seine Heimat, niemand bricht so einfach alle Brücken hinter sich ab, niemand begibt sich in Lebensgefahr, ohne zu wissen, was ihn erwartet. Gerade aufgrund unserer Geschichte der Flucht ist es umso notwendiger, dass wir das Fliehen der Menschen heutzutage nicht ausblenden und uns ihres Schicksals annehmen. Das ist auch die Quintessenz der Erziehung, die ich von meiner Mutter übernommen habe. „Das, was ich erlebt habe, darf sich niemals wiederholen“ sagte sie ohne Groll auf die russischen Verfolger.
Oft sind bei solchen Fluchten die schwächsten in der Kette auch die ersten Opfer, die Kinder. Bei der Flucht aus Ostpreußen blieb im kalten Winter noch nicht einmal die Bestattung der Kinder im zugefrorenen Boden. Vielmehr wurden die Leichen in Kartons verpackt und an die Straßenbäume gestellt. Dies sollte wenigstens ein rudimentärer „Schutz“ der toten Seelen sein. Jeder, der später vorbeikam, wusste, was sich in den Kartons befindet, ohne nachschauen zu müssen.
Ich hatte mich jahrelang mit dem Thema Flucht und Vertreibung und den sogenannten Kriegskindern, zu denen auch meine beiden Eltern zählten, in meiner Malerei auseinandergesetzt. Als ich dann selbst Vater einer Tochter war, kam dann eines Tages der Gedanke, ich müsste mal hinschauen, wie es den Kindern heute in Kriegen ergeht. Daraus sind die hier gezeigten Bilder entstanden.
Ich wurde oft gefragt, wie ich als Vater einer kleinen Tochter solche Bilder malen kann. Ganz einfach: gerade weil ich ein Kind habe, welches in einem Land lebt, in dem seit 70 Jahren Frieden herrscht (solange, wie wahrscheinlich nie zuvor in der Geschichte Mitteleuropas), muss ich hinsehen, muss ich diese Bilder malen. Es gibt Kinder auf der Welt, denen es nicht so gut geht. Wenigstens hinsehen müssen wir, das ist das Wenige, was wir alle tun können, tun müssen.
Am meisten erschüttert an der Arbeit an den Bildern, an der Recherche davor hat mich meine eigene Naivität. Bis dahin dachte ich immer, Kinder sterben im Krieg, weil sie zufällig zur falschen Zeit an der falschen Stelle sind. Dass sie zufällig da stehen wo die Bombe hinfällt, wohin sich eine Kugel verirrt, wo ein Haus einstürzt.
Aber es ist ja alles ganz anders:
Kinder sterben in Kriegen,
weil ihnen jemand den Kopf abschneidet,
weil sie jemand aufhängt,
weil ihnen jemand die Kehle durchschneidet,
weil ihnen jemand aus nächster Nähe eine Kugel in den Kopf schießt.
Es ist immer eine ganz konkrete Person, die etwas ganz Bestialisches mit einem Kind macht, eine ganz konkrete, bewusste Handlung vornimmt.
Aber ist das alles was sie hier sehen deshalb schon Kunst?
Um Max Beckmann zu zitieren: „Kunst dient der Erkenntnis und nicht der Unterhaltung“.
Die amerikanische Fototheoretikerin Susan Sontag hat in ihrem Buch „Das Leiden anderer betrachten“ das Dilemma aller Kunst und Dokumentation, die sich mit solchen Themen beschäftigen, dargelegt. Der maßlose Gebrauch von Bildern stumpft auf der einen Seite gegenüber dem Leid anderer ab, aber die bildliche Darstellung ist auf der anderen Seite nun mal das wirkungsvollste Instrument, wenn es darum geht, das Leiden überhaupt darstellbar zu machen und bei anderen Menschen Empathie zu wecken. Das Problem sei, dass sich die Menschen nicht mehr anhand der Fotos erinnern, sondern sich stattdessen an Fotos erinnern. Auf der anderen Seite ist es aber so, dass Leid, von dem keine Fotos existieren, vergessen wird. Die Opfer wollen, dass wir ihre Leiden sehen, nur so hat ihr Leiden einen Sinn.
„Gerade jetzt müssen wir uns den Menschen so nah wie möglich stellen. Das ist das einzige was unsere eigentlich recht überflüssige und selbstsüchtige Existenz einigermaßen motivieren kann.“ So hat Max Beckmann das Wesen und den Sinn der Kunst beschrieben. An anderer Stelle schrieb der große deutsche Maler, dass „das Mitgefühl an den Mitmenschen wieder hergestellt werden müsse“.