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Der verlorene Sack - Eine Weihnachtsgeschichte

- Rumms -
Der kleine Peter richtet sich in seinem Bett auf. "Was war das eben für ein Geräusch? Habe ich da eben nicht etwas gehört?" Verschlafen reibt er sich die Augen und blickt um sich. In der Dunkelheit des Zimmers erkennt er schemenhaft die Umrisse der Betten seiner beiden größeren Geschwister. Nur wenig Licht dringt durch das vereiste Fenster von draußen herein, denn der Mond lässt sich durch das dichte Gewölk nur selten blicken. Lisa und Jakob haben scheinbar nichts gehört. Sie atmen gleichmäßig und schlafen tief und fest.

Er hört noch einmal hin. Aber es ist ruhig. Nichts ist zu vernehmen. Oder dringt da ein kaum wahrnehmbares rhythmisches Schellen an sein Ohr? Nein, er muss sich getäuscht haben. „Wahrscheinlich habe ich nur geträumt“, flüstert er leise zu sich selbst. Er schließt die Augen und versucht wieder einzuschlafen.
Aber das geht nicht. Immer wieder muss er über das Geräusch nachdenken, dass einen dumpfen Ton verursacht hat. Er blickt zum Adventskranz hinauf, der in der Zimmermitte an roten Bändern von einem dicken Holzbalken herabhängt. Die Kerzen sind fast ganz herunter gebrannt. Morgen ist Weihnachten, deswegen hat er so unruhig geschlafen. Was wird er wohl in diesem Jahr für ein Geschenk bekommen? Er kann die Spannung kaum noch ertragen. Im vorigen Jahr war es der Teddy, der auf dem dicken Holzbrett über seinem Bett sitzt, und der immer seinen Schlaf bewacht. Nacht für Nacht. Das gibt ihm ein gutes Gefühl, denn manchmal ist ihm im Dunkeln ein wenig unheimlich zumute. Doch dann kreisen seine Gedanken wieder um das seltsame Geräusch. Außerdem tickt die alte Eichenuhr mit ihren beiden schweren Gewichten, die an langen Ketten aufgehängt sind, so laut, dass nun ans Schlafen überhaupt nicht mehr zu denken ist. Sonst nimmt er das Ticken der Uhr überhaupt nicht wahr.

Schließlich hält er es nicht länger aus. Er muss der Sache auf den Grund gehen. Er schiebt das dicke Federbett zur Seite und stellt die Füße auf die knartschenden Dielen. Lisa und Jakob rühren sich nicht. Er schlüpft in seine Pantoffeln und schlurft zum Fenster hinüber, ist er doch der Meinung, dass das Geräusch von draußen kam. Er haucht gegen die Scheibe. Ein kleines Loch tut sich in der Eisblumenlandschaft auf. Mit dem Handtuch, das über dem noch etwas warmen Ofen hängt, reibt er es größer. Nahe geht er mit den Augen daran, um besser nach draußen schauen zu können. Eine weite Schneelandschaft breitet sich in der Dunkelheit wie ein fahles weißes Tuch vor ihm aus. Erst drüben, hinter den schwarzen Umrissen der alten Kopfweiden am Bach, befindet sich der Hof der Nachbarsfamilie Schrader. Links die glatte Eisfläche des Teiches, auf dem sie immer den Schnee zur Seite schieben, um darauf Schlittschuh laufen zu können, und auf dem oft das Mondlicht glänzt. Direkt vor ihm steht der große Leiterwagen mit den eisenbeschlagenen Speichenrädern und der langen Deichsel daran, auf der sie immer wippen. Er wird nur noch selten benutzt. Ab und zu spannen sie ihr Pferd davor, den großen Braunen mit der langen Mähne, um mit ihm ins Holz zu kutschieren. Und am Sonntag, wenn der Vater im Winter auf dem Hof nur wenig zu tun hat, dann bindet er manchmal die drei Schlitten hintereinander ans Zaumzeug des Braunen, und dann werden sie von ihm über den weiten schneebedeckten Anger gezogen. Dann sind Lisa, Jakob und er in ihrem Element, und dann jauchzen sie vor Freude.

Peters Blick wandert weiter. "Doch was ist das?", fragt er sich. Mitten auf dem Weg liegt ein großes, dunkles und rundes Etwas. Das gehört dort nicht hin, das lag am Abend noch nicht da. Sollte das die Ursache des Geräusches gewesen sein? Natürlich muss er wissen, um was es sich dabei handelt. Seine Neugierde ist einfach zu groß. Er streift sich seinen dicken Wollpullover über, zieht sich die Pudelmütze mit der runden Bommel über die Ohren, steigt in die Gummistiefel, die unter der Holztreppe stehen und schleicht in die Diele hinaus. Vorsichtig öffnet er die knarrende Eingangstür. "Hoffentlich hören es die Eltern nicht", denkt er, "sonst werde ich womöglich noch Ärger bekommen." Er stapft in den tiefen Schnee hinaus. Es ist eine herrliche Nacht, auch wenn dichte Wolken den Mond jetzt endgültig verdecken und es wieder zu schneien begonnen hat. Peter mag den Winter, besonders jetzt in den Schulferien, wo sie Kinder machen können was sie wollen. Mindestens so sehr wie heiße Sommertage, oder sogar noch lieber.
Er hebt den Kopf und schaut nach oben. Flocken rieseln wie kleine Federn herunter auf sein Gesicht. Sie kitzeln ihn auf der Nase. Er wischt sie fort und denkt: Es sind so viele, vielleicht so viele wie die Sandkörner am Bodden, wo er immer bei seinen Großeltern die Sommerferien verbringt.

Doch dann wendet er sich wieder dem dunklen Etwas zu. Als er näher herantritt, erkennt er, dass es ein prall gefüllter Sack aus rauen Leinen ist. „Solch einen großen Sack habe ich noch nie gesehen“, spricht er zu sich selbst. Erstaunt betastet er ihn mit den Fingern. "Was mag da wohl drin sein? Fühlt sich irgendwie komisch an. Es ist weder Heu noch Hafer. Es ist etwas Festeres." Peter schreitet um den Sack herum, der so groß ist, dass er ihm bis an die Schultern heran reicht. "Dort unten an einer Ecke, dort ist er eingerissen, dort hat er ein Loch. Vermutlich stammt es vom Sturz, denn er muss von einem vorbeifahrenden Wagen heruntergefallen sein. Doch bei dem tiefen Schnee können Pferdewagen eigentlich kaum fahren", wundert er sich. Als er sich bückt, erkennt er das Führerhaus eines roten Spielzeugfeuerwehrautos mit einer Leiter auf dem Dach, das etwas daraus hervorlugt. Jetzt ist er noch verwunderter: „Das, das ist doch ein Feuerwehrauto, genauso wie ich es mir gewünscht habe“, stottert er. „Das kann doch nicht wahr sein.“ Er richtet sich wieder auf und blickt sich um. Vielleicht kann er noch mehr entdecken. Und tatsächlich, da erst bemerkt er die Spuren im Schnee, auf denen der Sack liegt. Es sind Abdrücke, die eindeutig von breiten Schlittenkufen stammen. Damit kennt er sich aus, benutzen doch auch sie manchmal den großen Pferdeschlitten, wenn sie im Winter am Sonntagmorgen ins Dorf zur Kirche fahren.

Und dann erkennt er noch mehr. "Da sind Tierspuren, Abdrücke von Hirschhufen. Oder?", er stutzt....und jetzt dämmert es ihm, "sollten es vielleicht die von Rentieren sein? Natürlich!“ Er schlägt sich mit der Hand vor die Stirn, „dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin. Morgen ist Weihnachten, das habe ich vor lauter Aufregung ja ganz vergessen, und natürlich ist hier der Weihnachtsmann vorbei gekommen, und er ist es, der den Sack verloren hat. Das gibt’s doch gar nicht!“, ruft er aus. „Ausgerechnet bei uns, vor unserem Haus, hat er den Sack mit den Geschenken verloren!“ Peter ist ganz aus dem Häuschen. "Vielleicht war er auf dem Kutschbock eingenickt, denn sonst hätte er den Schlitten doch angehalten", denkt er.

Aber was soll er nun tun? Er schaut der Schlittenspur nach. Die verliert sich in einiger Entfernung im Schnee und in der Dunkelheit. Er geht zum Sack zurück, versucht ihn anzuheben. Doch der ist viel zu schwer. Er muss seinen Vater aus dem Bett holen, der muss ihm helfen. Schließlich kann der Sack des Weihnachtsmanns nicht mitten auf dem Weg liegenbleiben.
Vorsichtig tritt er in das Schlafzimmer seiner Eltern. Er rüttelt seinen Vater an der Schulter: „Papa, du musst aufstehen. Der Weihnachtsmann war da, er hat den Sack mit den Geschenken direkt vor unserem Hof verloren.“
Verschlafen dreht sich sein Vater um: „Peterchen, lass mich schlafen. Morgen ist Weihnachten, dass wird ein langer Tag.“
„Papa, es stimmt wirklich. Wir können den Sack dort nicht liegenlassen. Und wie soll denn der Weihnachtsmann nun die Geschenke verteilen? Alle Kinder warten doch darauf.“
„Peterchen, du hast mal wieder geträumt, so wie immer.“
„Aber Papa, du musst mit....“
„Nun ist aber Schluss“, Peters Vater wird energischer, „morgen werden wir uns darum kümmern.“
Er steht auf, nimmt Peter bei der Hand und führt ihn durch die Diele wieder zurück ins Kinderzimmer zu seinem Bett. „Nun leg dich wieder hin, morgen früh sprechen wir weiter.“
„Papa, es ist doch....“
„Kein Wort mehr.“

Peter muss sich fügen. Enttäuscht legt er sich wieder hin und zieht sich das dicke Federbett bis zur Nasenspitze hoch. Lisa und Jakob blinzeln nur kurz, dann schließen sie wieder die Augen. Sie kennen das schon von ihrem kleineren Bruder. Er aber kann immer noch nicht einschlafen, und er wälzt sich von einer Seite auf die andere. Zu viele Gedanken kreisen ihm durch den Kopf. Aber irgendwann wird das Ticken der alten Eichenuhr leiser, und er dämmert dann doch wieder in seine Traumwelt hinüber, in der tapfere Ritter gegen fürchterliche Drachen kämpfen, in der Piraten mit gezücktem Degen Segelschiffe entern, Indianer ihre Gefangenen an den Marterpfahl binden, oder in der - zu seinem Leidwesen - auch manchmal Gespenster in schaurigen Verliesen ihr Unwesen treiben und ihn bedrohen.

Obwohl die Nacht kurz war, ist Peter am nächsten Morgen der erste, der auf den Beinen ist. Sofort läuft er zur Haustür hinüber, durch deren kleine Butzenscheiben schon das frühe Tageslicht hereindringt und reißt sie auf. Doch was ist das? Verdutzt bleibt er auf der Schwelle stehen. Er reibt sich mit beiden Fäusten die Augen. „Wo ist der Sack? Er ist fort", ruft er aus. Durch den tiefen Schnee stapft er hinaus. Kein Sack da, und auch keine Spuren. Sind sie vom Wind zugeweht? Oder hat er doch alles nur geträumt, so wie immer? Er kann es kaum glauben, doch es muss wohl so sein. Enttäuscht und mit gesenktem Kopf schreitet er ins Haus zurück. „Naja“, spricht er zu sich selbst, „es war eben doch nur ein schöner Traum“, und dabei hätte er schwören können, dass alles wahr gewesen sei. Doch will er sich nicht weiter darüber ärgern, denn schließlich ist heute Weihnachten und es wird der allerschönste Tag des ganzen Jahres werden.

"Ob ich schon mal einen Blick in die Weihnachtsstube werfen soll?", denkt er bei sich. Er weiß zwar, dass es nicht richtig ist. Doch irgendwie zieht sie ihn magisch an, und niemand wird es merken. Peter hört sich im Haus um. Tatsächlich schlafen immer noch alle. Er schleicht an der Schlafzimmertür seiner Eltern vorbei und öffnet vorsichtig die Stubentür. Nur einen ganz kleinen Spalt, damit sie nicht knarrt, und damit er einen Blick auf die weihnachtliche Wunderwelt erhaschen kann. Der Blick fällt zuerst auf den Tannenbaum mit den vielen Strohsternen und den Holzengeln, die an dünnen goldenen Fäden an den Zweigen aufgehängt sind. In den zahlreichen silbernen Kugeln spiegelt sich die ganze Weihnachtsstube. Wie ist der Baum doch selbst in der Morgendämmerung schon glänzend und schön, und wie wird er erst aussehen, wenn am Abend auch noch die Lichter daran brennen? Wie im Vorjahr auch wird er der schönste Baum der ganzen Welt sein, da ist sich Peter sicher. Dann wandert sein Blick darunter. Peter erblickt eine Ritterburg mit einer Zugbrücke, eine Puppe mit langen, braunen Zöpfen und – er traut seinen Augen kaum - ein rotes Feuerwehrauto mit einer langen Drehleiter auf dem Dach. „Das ist ja unglaublich“, fährt es aus ihm heraus, und sofort ist er wieder mit den Gedanken bei der vergangenen Nacht. „Das ist doch, ja das ist doch ein Feuerwehrauto genau so wie das, das aus dem Geschenkesack des Weihnachtsmanns herausgeguckt hat.“
Peter macht einen Freudensprung. „Juhuuu!“, schallt es laut durch das ganze Haus, so dass alle wach werden. Und es ist ihm jetzt egal, dass seine Eltern nun mitbekommen werden, dass er in die Stube gelunst hat.
Er rennt noch einmal vor die Haustür und nach draußen, dort wo der Sack gelegen hat. Genau an der Stelle lässt er sich auf die Knie in den weichen Schnee fallen, und mit den Händen und den Unterarmen schaufelt er die lockere neugefallene Schicht beiseite. Da ist der Abdruck einer Schlittenkufe. Und dann spürt er noch etwas, etwas kleines, rundes zwischen seinen Fingern. Er zieht es aus dem Schnee hervor. Es ist eine kleine silberne Schelle. Er legt sie in die Handflächen und beschaut sie. Ein dünner, abgerissener Lederriemen hängt daran. Die Schelle muss vom Zaumzeug der Rentiere stammen. Er hält sie an sein Ohr und schüttelt sie. Ein helles Schellen ertönt. Und viele davon....? „Natürlich, das war`s auch in der Nacht!“ ruft er. Nun weiß Peter es wirklich, er hat nicht geträumt. Alles ist wahr gewesen. Der Weihnachtsmann war tatsächlich da gewesen und hat irgendwann bemerkt, dass er den Sack mit den Geschenken verloren hat und ist dann noch einmal zurückgekommen, um ihn abzuholen. Mit der Handfläche umschließt er die kleine Schelle, und aufgeregt rennt er ins Haus zurück. Nun muss Peter allen davon berichten: seiner Mutter, Lisa und Jakob und erst recht seinem Vater, der ihm doch nicht glauben wollte. "Was werden die für Augen machen", ruft er aus. Es wird das schönste Weihnachtsfest werden, das er je erlebt hat.

  • Peter wohnt auf einem Bauernhof.
  • hochgeladen von Kurt Wolter
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  • Ist hier etwa der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten entlanggefahren?
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  • Peter mag den Winter mindestens so sehr wie heiße Sommertage. Vielleicht sogar noch lieber.
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  • Manchmal wird an Sonntagen der Pferdeschlitten angespannt. Dann wird zur Kirche ins Dorf gefahren.
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  • Natürlich geht es auch ins Holz, denn dort wird für das Weihnachtsfest der Tannenbaum geschlagen. Dort mitten im Wald lebt auch die alte Kräutertrude, die den Kindern etwas unheimlich ist.
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5 Kommentare

Danke für Eure Kommentare. Es macht mir immer wieder viel Freude, mich an meine frühe und früheste Kinderzeit zu erinnern und mir Phantasiegeschichten auszudenken.

Schade, dass ich erst jetzt diese schöne Geschichte lese und auch Kindheitserinnerungen aufkommen ließ, denn es wäre ideal für einen Vortrag bei meiner Familien-Weihnachtsfeier gewesen.
In meiner Kindheit gab es allerdings keinen Weihnachtsmann, bei uns kam dass Christkind mit den Geschenken "angeflogen".
Für die Bilder gibt es nur einen Kommentar ... und der lautet "Märchenhaft schön".

Danke und liebe Grüße Lisa

eine sehr schöne Geschichte mit ganz viel Atmosphäre. Das Naumburger Tageblatt/MZ wird die Geschichte in seiner morgigen Ausgabe veröffentlichen.

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