Alto Ticino - das unbekannte Tessin
Als Sonnenstube der Schweiz ist das Tessin bekannt, der fünftgrößte und südlichste Kanton der Helvetischen Republik. Voralpine Berg- und liebliche Seenlandschaft, majestätische Palmen vor schneebedeckten Gipfeln, italienische Küche, schweizerische Präzision und ein „Wetter aus Samt und Seide“, wie Erich Kästner es einmal formulierte – reizvolle Kontraste, die typisch sind für das Tessin, in dem Italienisch die Landessprache ist.
Der San Gottardo, der Gotthard, ist mit seinen 2091 Metern für die Schweizer das Dach Europas, die Mutter aller Massive und mit vier Flüssen und vier Bergpässen die mythische Mitte der Schweiz. Selbst Goethe passierte dreimal den Pass, zuletzt 1797. Am Gotthard (www.gottardo.ch) scheiden sich Wasser, Klima, Kultur und Sprache. Er gilt den Schweizern als Schicksalsweg, als ihre Seele.
Wer nicht den schnellen 17 Kilometer langen und längsten Tunnel der Welt durchfährt, der die Alpen regelrecht „beseitigt“, findet noch immer eine Genießerstrecke vor, die ihresgleichen sucht, die alte Passstraße Tremola. Selbst die Kilometersteine aus dem 19. Jahrhundert sind noch erhalten. An jeder Kehre eine neue Aussicht. Oben angekommen, muss man aussteigen und Landschaft und Luft mit Mund, Nase, Augen einsaugen, das kleine Gotthard-Museum besuchen und vielleicht in der Albergo San Gottardo oder im Hospiz absteigen.
Um ein Jahrhundert zurückversetzt fühlt man sich, begegnet einem da oben eine Postkutsche, begleitet von Postillon, Kondukteur und einem Gespann von vier Pferden. Nein, keine Fata Morgana. Eine solche Nostalgie-Fahrt ist heiß begehrt, obwohl sie mit 597 Schweizer Franken zu Buche schlägt. In einem nachgebauten Achtsitzer Coupé-Landauer überqueren Nostalgiker den Gotthard-Pass vom Höhenkurort (1.444 m) Andermatt im Kanton Uri nach Airolo. Die Postkutsche benutzt die alte Passstraße Tremola, jene Serpentine, die der Zürcher Maler Rudolf Koller im Bild festhielt - es hängt im Zürcher Kunsthaus - und auf der die Gotthardpost im Rekordjahr 1875 72.030 Reisende transportierte. Zwischen Ende Juni und Mitte September veranstaltet die Historische Reisepost täglich solche Fahrten. Lässt sich vielleicht bei einer der nächsten Schweiz-Reisen einplanen.
Diese malerische Serpentinenstraße mit 24 Kehren zwischen Airolo und der Passhöhe kann auch CO2-neutral mit dem Alpmobil (www.alpmobil.ch) befahren werden, ohne die Umwelt zu belasten.
Touristisch weniger bekannt ist das obere Tessin, das Alto Ticino, das gleich hinter dem Gotthard-Tunnel und südlich der Alpen beginnt. Es wird auch „Bellinzona e Tre Valli“ genannt, weil zu ihm die drei Täler Leventina, Blenio und Riviera gehören, an deren südlichem Ende die Hauptstadt Bellinzona liegt.
Das erste Dorf im Alto Ticino ist Airolo. 1154 Meter hoch liegt der Ort am Eingang zum Valle Leventina (www.leventinaturismo.ch), durch das der Fluss fließt, der dem Kanton seinen Namen gab: Ticino, Tessin. Man sollte auf der Kantonsstraße Nr. 2 weiter fahren, um die spektakulären Felsformationen, Schluchten, Wasserfälle, die wie verkohlt aussehenden Holzhäuser, die Kirchen mit dem frei stehenden italienischen Campanile und die von Rino Tami konzipierten kühnen Brückenkonstruktionen der Autobahn, die sich auf 180 Meter hohen Stelzen über das Tal spannen, betrachten zu können.
Im malerischen Piotta mit auffallend vielen schönen Brunnen, in dem abseits des Ortes eine vom berühmten Schweizer Architekten Mario Botta konzipierte Autobahnraststätte steht, ist es ein Muss, auf die Ritom-Standseilbahn (www.ritom.ch) zu wechseln. Sie ist eine der ältesten und mit 88 Prozent Steigung steilsten der Welt, aber nichts für Höhenängstliche. Sie bringt Gäste zum malerisch gelegenen Ritóm-Stausee und zu schönen Wanderwegen.
Seit jeher ein Transittal, hat die Leventina viele Kämpfe überstanden, etwa im Jahre 1478 die Schlacht Sassi Grossi in Giornico, in der die Leventiner zusammen mit den Eidgenossen gegen die Mailänder kämpften. Giornico entpuppt sich als wahrer Augenschmaus. Seine zwei romanischen Steinbogenbrücken verbinden die Dorfteile, die der Fluss trennt. Sie stammen aus dem 12. Jahrhundert und waren bis 1500 Teil des Gotthard-Säumerwegs. Diesen romantischen Spitzenplatz wählte sich eine urige Gastwirtschaft für ihre Gäste, das Grotto due Ponti. Viele Grotti, die ehedem Weinkeller waren, locken mit bäuerlicher Küche zur Einkehr.
Mitten im Ort steht der ehemalige Wohnturm des Bischofs Atto von Mailand, es sind Reste einer mittelalterlichen Wehranlage. Auffällt ein bemaltes Haus aus dem 14. Jahrhundert, damals ein Wirtshaus, heute ein kleines Museum zur Geschichte des Tals. Das Familienwappen und die Fresken zeugen von den zahlreichen Reisenden auf dem Weg zum Gotthard.
Das bedeutendste Bauwerk und eines der wichtigsten romanischen Bauwerke im Tessin überhaupt ist die Kirche San Nicola. Von Weingärten umgeben, sind die mit Fresken ausgemalte Apsis und die offene Krypta sehenswert. Hat man das große rechteckige Hauptschiff durchquert, steigt man hinunter zur Hallenkrypta. Die acht Säulen tragen ungewöhnliche Kapitelle mit verschiedenen Tierfiguren. Man lese und staune: Das aus dem 12. Jahrhundert stammende sechseckige romanische Taufbecken wurde lange Zeit als Dorfbrunnen benutzt.
Im Jahr 2000 wurden die drei Burgen von Bellinzona - Castelgrande, Montebello und Sasso Corbaro -, zum Unesco-Welterbe erhoben, was die Bekanntheit der Stadt sehr förderte (www.bellinzonaturismo.ch). Sie gehören zu den bedeutendsten mittelalterlichen Wehranlagen der Schweiz. Mit ihren Mauern, Türmen, Zinnen und Toren löst diese imposante, das ganze Tal abschliessende Befestigungsanlage, die die Herzöge von Mailand im 15. Jahrhundert gegen das kriegerische Vordringen der Eidgenossen errichten ließen, auch beim heutigen Betrachter Erstaunen aus.
Castelgrande diente der Bevölkerung als Fluchtburg. Vorbildlich durch den Architekten Aurelio Galfetti restauriert und mit einem Lift im Felsen zu erreichen, ist heute das kulinarisch hochstehende Burgrestaurant gleichen Namens eine gute Adresse. Den Burghof hat Galfetti „als Stätte der Begegnung“ wiederbelebt.
Auch das mit 279 Metern höchstgelegene Castello di Sasso Corbare aus dem Jahre 1479 lockt mit gutem Essen in seine Osteria im Innenhof.
Zugbrücken und Türme machen das Castello di Montebello, 90 Meter hoch über der Stadt, zu einem mittelalterlichen Erlebnis. Faszinierende Ausblicke genießt man von allen dreien.
Prächtige Bürgerhausfassaden aus dem 18. Jahrhundert und zahllose Fassadenmalereien sind in der Altstadt zu bewundern. Ein imposanter Treppenaufgang führt zur Renaissance-Kirche der Heiligen Petrus und Stefan, der „Collegiata“. Im Mittelpunkt der „Stadt der Türme“ erhebt sich das Rathaus mit drei Geschossen in historisierendem Stil und mit südländischem Innenhof. Die Graffiti in den Bögen der Loggien zeigen Episoden aus der Geschichte Bellinzonas.
Jedes Jahr seit 1986 lädt der ganze Wonnemonat Mai gastronomisch in das Alto Ticino ein zum „Maggio Gastronomico“. Etwa 40 Gaststätten beteiligen sich und servieren regionale Produkte ab 20 Schweizer Franken für ein Tellergericht und ab 43 Franken für ein dreigängiges Menü. So auch die Osteria Altanca im gleichnamigen Ort 1419 Meter über dem Meer und mit herrlichem Panoramablick. Probieren muss man den Piora, den berühmtesten Käse des Tessin, natürlich mit einem Glas Merlot. Beides auch als Mitbringsel geeignet.
Um einen größeren Bekanntheitsgrad zu erreichen, wollen die Touristiker des Alto Ticino mit ihren drei Nachbarn, dem Walliser Goms, der Graubündner Surselva und dem Kanton Uri als Region San Gottardo gemeinsame Sache machen. Im Herzen der Schweiz gelegen, ist die Region San Gottardo aus allen vier Himmelsrichtungen per Bahn oder Auto gut erreichbar.
Noch ist Winter und der Pass gesperrt. Wer aber Winterfreuden genießen will, vertraue sich den mehr als 550 Kilometer Ski- und Snowboardpisten, über 200 Kilometer Langlaufloipen, 200 Schneeschuhtrails, 300 Winterwanderwegen, Schlittelpisten, Freeride-Hängen, dem Avalanche Training Center und den Snowparks an. Das alles und noch mehr finden Wintersportler in der Region San Gottardo vor.