Eine Radtour zum Steinhuder Meer
Ein Tagesausflug von Hannover ans Meer, an Nord- oder Ostsee, ist eine aufwendige Angelegenheit. Dafür sollte man sich eigentlich mehr Zeit nehmen. Doch es gibt eine Alternative, nämlich einen Besuch des Steinhuder Meeres, das Luftlinie nur 30 Kilometer von unserer Landeshauptstadt entfernt liegt. Dabei trifft das Wort Meer natürlich nicht wirklich zu. Der Ausdruck Meer ist eine niederdeutsche Beschreibung einer von Land eingeschlossenen großen Wasserfläche. Und das ist das Steinhuder Meer tatsächlich. Mit seinem Oval von etwa acht mal viereinhalb Kilometern Größe und einer Wasserfläche von knapp 30 Quadratkilometern, ist es der größte See Niedersachsens, und deswegen natürlich ein beliebtes Ausflugsziel. Doch nicht nur das, man kann dort sogar einen Urlaub verbringen.
Uns reizt das Steinhuder Meer jedoch zu einem Tagesausflug. Man kann zum Beispiel mit dem Wagen oder auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Steinhude oder Mardorf fahren, und von dort aus einen Teil des Seeufers erkunden. Wir brauchen jedoch etwas Bewegung und nehmen deswegen lieber das Fahrrad. Auch mit diesem gibt es Alternativen. Man kann mit der Bundesbahn nach Wunstorf oder Neustadt am Rübenberge fahren und die Tour von dort beginnen. Dann hat man etwa 50 Kilometer zu strampeln. Wir wollen jedoch in Hannover starten und haben so, mit dem Schlenker über Kloster Loccum, 150 Kilometer vor uns. Das klingt vielleicht viel, aber wir haben ja auch den ganzen lieben langen Tag über Zeit. Und so starten wir auch schon an einem Sommertag zum Sonnenaufgang.
Vom Maschsee, der noch ruhig und verschlafen und ohne jeden Rummel daliegt, radeln wir zunächst an der Ihme entlang. Auf ihrem schönen Uferweg gelangt man immer im Grünen quer durch Hannover, ohne dass man von der Stadt viel mitbekommt. Nur einmal nach links erheben sich die hohen und hässlichen Wohn- und Bürotürme des Ihme-Zentrums. Bausünden der siebziger Jahre, die heute mächtige Probleme bereiten. Hinter dem Großen Garten von Herrenhausen geht es in die Nördliche Leineaue hinein. Dort schlängelt sich der Fluss in vielen Windungen durch schöne Wiesen- und Weidelandschaft. In so manchen Frühjahren steht dieses tiefliegende Gebiet großflächig unter Wasser.
Dann muss doch ein kleines Stück Stadt durchquert werden. Es ist der Ort Letter, der Hannover im Nordwesten berührt. Und Nordwesten wird auch weiterhin unsere Richtung im flachen, platten Land sein. Doch gleich hinter Letter wird es wieder grün. Am Klosterforst Marienwerder legen wir einen ersten kurzen Stopp ein. Wir werfen einen Blick auf die Kirche des Augustinerinnenklosters. Sie ist vor etwa 800 Jahren erbaut worden und ist damit die älteste Kirche Hannovers. Sehenswert sind in der kleinen Kirche die schönen Wand- und Deckenmalereien, die allerdings nicht so alt sind wie sie scheinen. Sie wurden von demselben Maler angefertigt, der im 19. Jahrhundert auch die Räume der Marienburg verzierte.
Hinter der Klosteranlage erstreckt sich die Parklandschaft des Hinüberschen Gartens mit dem Hexenmeisterturm auf einer Anhöhe. Er ist einer der ältesten Landschaftsgärten Deutschlands, angelegt nach englischem Vorbild. Ein schönes Fleckchen Erde für einen Spaziergang. Nicht weit davon entfernt wird die Leibniz-Universität demnächst ein über 100 Meter hohes Windrad errichten. Eigentlich ist das nichts besonderes, in diesem Fall jedoch schon. Es wird nämlich aus Holz bestehen. Eine Weltneuheit, die als Versuch dienen wird. Kann dieses Natur-Material in Zukunft künstlichen Materialien Konkurrenz machen?
Durch weite Feldlandschaften erreichen wir den Mittellandkanal, den mit über 300 Kilometern Länge längsten Kanal Deutschlands. Er stellt sozusagen ein Verbindungsstück von West- nach Osteuropa dar, dass eine Wasserfahrt vom Rhein zur Oder ermöglicht. Für diese Landschaft im Tal der Leine ist die Diskussion angeregt worden, eine große Seenplatte entstehen zu lassen. Es gibt Argumente die dafür und andere die dagegen sprechen. Einerseits sind große Wasserflächen immer attraktiv, andererseits würde das Naturgebiet Nördliche Leineaue verloren gehen. Dieses Thema wird uns wohl noch länger beschäftigen.
An dieser Stelle nun gabelt sich auch der Weg. Wir müssen uns entscheiden, ob wir das Steinhuder Meer über Neustadt oder Wunstorf erreichen wollen. Wir entscheiden uns für den letztgenannten Ort und radeln weiter am Kanal entlang. Nach einigen Kilometern verlassen wir diesen jedoch wieder und erreichen bald darauf Wunstorf. Wir fahren durch die schöne Fußgängerzone, werfen einen Blick auf die Stiftskirche und die anderen historischen Gebäude, von denen mehrere fast 500 Jahre alt sind und sind dann schon wieder im Grünen. Zur Linken blicken wir auf die nicht weit entfernte Kalihalde von Bokeloh. Doch wir halten uns nach rechts und gelangen schließlich durch ein Waldstück an unser Ziel. Um acht Uhr, nach dreistündiger Fahrt und 50 Kilometern, erreichen wir Steinhude.
An der schönen Seepromenade lassen wir uns in der Sonne auf einer Bank nieder, packen unsere Picknicksachen aus und schauen dabei über die weite Wasserfläche des Sees. Und das ist für einen Binnenländer schon ein eindrucksvoller Anblick. Es weht eine steife Briese. Auf den Wellen dümpeln Enten und Schwäne. Oben im Wind stehen Möwen, die mit dem Wind ihre heiseren Schreie zu uns herüber schicken. Zur Linken mitten im See liegt der Wilhelmstein mit seiner Festung. 1761 bis 1765 ließ Graf Wilhelm von Schaumburg-Lippe diese künstliche Insel mit seiner wehrhaften Anlage errichten. Er wollte seine kleine Grafschaft mit nur 17 000 Einwohnern vor der Annexion anderer Mächte schützen. Natürlich ist der Wilhelmstein für Touristen ein attraktives Ziel. Mit den Auswandererbooten kann man hinüber fahren. Wir haben es schon ein anderes Mal gemacht.
Nachdem wir uns gestärkt haben, radeln wir durch den gemütlichen Ort mit seinen vielen Fischlokalen, in denen man auch den bekannten Räucheraal verzehren kann. Noch ein kurzer Stopp auf der nahen Badeinsel, von der man in das kühle Nass springen kann, dann geht es durch Wiesengelände ins Moor hinein.
Das Wunstorfer Moor begrenzt das Steinhuder Meer an seiner östlichen Seite. Es ist, wie die anderen Moore nördlich Hannovers, ein typisches Hochmoor, hat aber auch kleinere Niedermoorbereiche. Nördlich der Straße, die von Mardorf nach Neustadt führt, wird im Toten Moor zurzeit noch Torf abgebaut. Doch wohl nicht mehr lange, denn das Moor soll sich demnächst wieder selbst überlassen werden.
Wir radeln durch den Bruchwald. Ab und zu legen wir einen kurzen Halt ein. Bohlenwege oder ein Aussichtsturm führen zu interessanten Moorbereichen und ermöglichen einen weiteren Blick. Das Wollgras steht in der Blüte. Es ist mit seinen weißen Puscheln die typische Moorpflanze.
Nach etwa acht Kilometern, währenddessen wir die Wasserfläche nicht gesehen haben, erreichen wir die Straße, die von Neustadt kommt. Auf deren nördlicher Seite folgen wir einem Waldweg bis kurz hinter eine Schranke. Hier tut sich ein weiter Blick auf das Torfabbaugebiet auf. Kahle, braune Abbauflächen von Entwässerungsgräben durchzogen so weit das Auge reicht. Nach rechts verschwinden in der Wildnis die rostigen Schienen der längst stillgelegten Moorbahn.
Dann erreichen wir durch einen Auwald wieder das Seeufer. Von einem Steg schauen wir nun von der entgegengesetzten Seite des Steinhuder Meeres über die weite Wasserfläche. Nach links breiten sich am Ufer Schilfdickichte aus. Ein Paradies für Wasservögel und inzwischen auch wieder für den Fischotter. Nach etwa einem halben Jahrhundert ist er wieder zurückgekehrt. Er scheint sich hier wohlzufühlen. Doch nicht jeder freut sich darüber. Den Fischern ist er eher ein Dorn im Auge. Weiter hinten am Horizont erkennen wir die blauen Höhenzüge des Deisters und weiter nach rechts die der Rehburger Berge.
Am Weißen Berg und auch dahinter ziehen sich viele Holzstege in den See hinein. Dichtgedrängt sind dort die Segelboote vertäut, ist doch das Steinhuder Meer ein beliebtes Segelrevier. Über 6 000 Boote sollen es an der Zahl sein. Draußen auf den Wellen sehen wir aber auch Surver und sogar Kitesurver, die sich von ihrem Schirm über das Wasser ziehen lassen und sogar den einen oder anderen Sprung wagen.
Nachdem wir in einem der vielen Gasthäuser eingekehrt sind, uns am Ufer ein Sonnenbad gegönnt haben und auch mal ins angenehm kühle Nass gesprungen sind, sitzen wir jedoch bald wieder auf dem Sattel. Bei Mardorf verlassen wir den Uferbereich und damit zunächst auch den See. Während die normale Radtour weiter um das Steinhuder Meer herum führt, wollen wir noch einen Abstecher nach Loccum machen. Zunächst geht es durch die Meerbruchswiesen. Das sind die Feuchtwiesen, die sich westlich des Sees großflächig ausbreiten. Um der Verbuschung dieser wertvollen Natur entgegenzuwirken, werden hier Wasserbüffel gehalten. Es sind schon imposante Tiere, die da im hohen Gras stehen und uns beäugen. Man könnte sich in die Savannen Afrikas versetzt fühlen. Über 40 dieser Großrinder zählen wir. Es sollen aber doppelt so viele sein.
Schließlich erreichen wir den kleinen Ort Rehburg. Doch gleich geht’s weiter Richtung Loccum. Ein Hinweisschild am Straßenrand macht uns neugierig. Wir folgen durch Feldlandschaft einem Stichweg zu einem Höhenzug hinauf. Dort oben hat einst ein kleines Kloster gestanden. Vor etwa 1000 Jahren wurde es von Zisterziensermönchen errichtet. Doch nun zeugen nur noch die Grundmauern davon, die einst ein Bauer beim Pflügen unter seinem Acker entdeckt haben soll. Eine Erläuterungstafel zeigt eine Rekonstruktion der Klostergebäude. Wir schreiten die Grundmauern ab, die so gerade über die Grasnarbe kucken und können uns alles gut vorstellen. Doch lange hatte das Kloster nicht Bestand. Der Bischof von Bremen benötigte Steine für seine Kirchen, und so ließ er die Klostergemäuer auseinandernehmen und – vermutlich über die Weser - einfach nach Bremen transportieren.
Bedeutend mehr übrig geblieben ist vom Kloster Loccum, das wir bald darauf bei hochstehender Nachmittagssonne erreichen. Es wurde 1163 ebenfalls von den Zisterziensern gegründet. Es bildet mit seinen alten Gebäuden vor saftigen Pferdeweiden ein romantisches Ensemble. Man fühlt sich in frühe Zeiten zurückversetzt. Das Kloster war damals eine Filiale des Kosters Volkenroda in Thüringen. Beide Orte werden verbunden durch einen Pilgerweg, den Sigwartsweg. Wer diese Wanderung auf sich nimmt, wird sich als Hannoveraner vermutlich wundern. Denn am Ziel trifft er im dortigen Kloster auf ein Gebäude, was ihm bekannt vorkommen wird. Es ist der Christus-Pavillon, der im Jahr 2000 auf der Expo stand und dort in Volkenroda sein Zuhause gefunden hat.
Wir gönnen uns ein wenig Ruhe in dieser schönen Anlage. Die Kirche aus uralten Steinen errichtet, der schöne Klostergarten, der Teich mit dem Klosterforst dahinter. Alles das strahlt eine angenehme Ruhe aus, fernab vom Trubel der Großstadt. Einfach mal die Seele baumeln lassen und alles auf sich wirken lassen. An einem solchen Tag hat man die Zeit, niemand drängelt. Doch irgendwann müssen wir dann doch weiter.
Und dann wird’s sogar gebirgig. Bei Münchehagen, vorbei am Dinosaurier-Park, den wir erst neulich besucht haben, strampeln wir in die ersten Ausläufer deutscher Mittelgebirge hinauf. Immerhin erreicht der Höhenzug stolze 140 Meter über dem Meeresspiegel. Doch ein Stück weiter im Deister wird er schon um das Dreifache an Höhe übertroffen. Doch der soll an diesem Tag nicht unser Ziel sein. Wir sausen nach Winzlar hinunter und gelangen dort wieder auf den Weg, der das Steinhuder Meer umrundet. Durch Natur pur und am Rande des noch intakten Habenburger Moores entlang, erreichen wir bei Altenhagen wieder den See.
Dort setzen wir uns auf einen Holzsteg, der weit in den See hineinragt und blicken noch einmal ausgiebig über die weite Wasserfläche. Der Wilhemstein ist von hier ganz nah. Nach schräg rechts am gegenüberliegenden Ufer der Weiße Berg, und auf dem Wasser unzählige weiße Segel. Und das alles unter einem weiten blauen Himmel. Das Steinhuder Meer ist wirklich ein herrliches Fleckchen Erde, ober viel besser gesagt: ein herrliches Fleckchen Wasser. Egal ob für Radfahrer, für Wassersportler oder für Spaziergänger. Einfach mal raus aus der Stadt und mal was anderes erleben. Das muss einfach immer mal wieder sein.
Es ist bereits später Nachmittag, als wir uns wieder aufs Rad setzen. Die Beine sind schon etwas müde geworden, denn wir mussten teilweise gegen einen starken Wind anstrampeln. Doch von Steinhude sind es noch 50 Kilometer bis nach Hause. Aber da die Strecke abwechslungsreich und eine andere als auf der Hinfahrt ist, wird es nie langweilig.
In Bokeloh türmen sich am Ortsrand die mächtig hohen Kalihalden der Grube Siegmundshal auf. Sie wirken irreal, fast wie verschneite Berge der Alpen und ragen weit in den blauen Himmel. Noch befindet sich die Grube in Betrieb. Dort unten in den riesigen Hallen und Gängen in 1400 Metern Tiefe braucht niemand zu frieren. Trotz Kühlung mit frischer Luft von oben zeigt das Thermometer 50 Grad an. Zig Millionen Tonnen wurden hier gefördert. Man kann sich vorstellen, was für Hohlräume deswegen tief unten entstehen. Teilweise wurden und werden sie später wieder verfüllt. Die Teile der Halde, auf denen nichts mehr abgelagert wird, werden mit einer Plane abgedeckt und begrünt.
Kurz darauf erreichen wir das Dorf Idensen und damit einen absoluten Höhepunkt der Tour. Dort steht die Sigwardskirche, die Bischof Sigward von Minden vor fast 900 Jahren erbauen ließ. In Idensen gab es zur damaligen Zeit ein großes Vorwerk. Es war das Tafelgut der Bischöfe von Minden, und hier hatten sie ihren Sommersitz. Die kleine Kirche ist ein kompakter Bau mit nur kleinen Fenstern. Wie die meisten Kirchen dieser Zeit diente sie wohl auch als Fluchtburg. Oben auf dem Dach des Turmes, der einstmals höher war, hat sich ein Storchenpaar sein Nest gebaut. Fünf Junge sollen darin in diesem Jahr aufgezogen werden. Doch noch mehr interessiert uns das Innere der Kirche, denn deretwegen ist sie der bedeutendste sakrale Kleinbau des 12. Jahrhunderts im gesamten deutschsprachigen Raum. Prächtige Fresken, die im Ende des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt und ab 1930 freigelegt wurden, da sie von Kalkputz überdeckt waren, zieren Wände und Decken. Diese bunten Malereien sind es, die , wenn auch nur noch teilweise erhalten, für Staunen sorgen. Immer noch sind die Farben recht gut erhalten, obwohl sie 900 Jahre alt sind. Man muss sich einfach die Zeit nehmen und alles in Ruhe auf sich wirken lassen. Gänsehautatmosphäre für kulturell Interessierte. Am Wochenende kann man sich den Türschlüssel zur Kirche aus dem Vorraum der nahen Pfarre holen.
Noch tief beeindruckt machen wir uns an die Weiterfahrt. Wem nun die Puste ausgeht, der könnte in Haste in den Zug steigen. Doch wir radeln weiter von einem Dorf zum anderen. Über Kohlenfeld, Groß Munzel und am Stemmer Berg vorbei, von den man eine großartige Aussicht über das Calenberger Land hat, nähern wir uns Hannover. In Dunau bewundern wir die wunderschöne Windmühle des dortigen Rittergutes der Familie von Alten. Seit 450 Jahren ist die Familie dort ansässig. In Leveste werfen wir einen Blick auf einen Gutshof mit seinem Wassergraben, der einstmals eine Burg war und auf dem Werner von Siemens geboren ist und seine Kindheit verbracht hat. Und quer durch die Felder über die Lenther Allee und das Dorf Velber erreichen wir schließlich am Abend, einigermaßen erschöpft, unseren Ausgangspunkt.
Es war eine großartige Tour. Viel Schönes haben wir gesehen und Interessantes erfahren. Das Steinhuder Meer und seine abwechslungsreiche Umgebung können wir jedem empfehlen. Für jeden Geschmack liegt Passendes auf der Strecke. Ob schöne Natur, attraktive Touristenziele oder Historisches. Es gibt dort so viel zu sehen und zu erleben. Und beim nächsten Mal wählen wir auf der Hinfahrt die Strecke über Neustadt und nähern uns dem Steinhuder Meer von östlicher Seite.