Abenteuer in Ladakh
Abenteuer im fernen Himalaya
Im August 2002 fand ich folgenden Artikel in Ihrer Zeitschrift: Gesucht: Hilfe für ein kleines Mädchen in „Klein-Tibet“. Johanna Komp berichtete von ihrer Arbeit in Lingshed, einem entlegenen Bergdorf im West-Himalaya. Dort fand sie bei einer armen Familie in einem Bauernhof ein behindertes zweijähriges Mädchen mit Lähmungen und warb um Interessenten, die sich vorstellen könnten, Ferien in einem ladakhischen Dorf zu machen und ihr berufliches Können diesem Mädchen zur Verfügung zustellen.
Ich arbeite als Physiotherapeutin im der Klinik für Neurologie am Bezirkskrankenhaus Günzburg. Mein Mann ist Orthopädietechniker. Und wir sind beide begeisterte Bergwanderer mit unerfüllten Träumen, endlich einmal das Dach der Welt kennen zu lernen. Für uns bot sich hier eine wunderbare Möglichkeit beides zu verbinden: Hobby und Beruf, Vergnügen und Arbeit. Nach langen Gesprächen mit Johanna Komp lief die Vorbereitungsphase an. Unser gemeinsamer Urlaub von 5 Wochen musste geplant und genehmigt werden. Als wir uns ausrechneten, wie viel Zeit uns eigentlich in Lingshed zur Behandlung des Kindes blieb, wurde uns klar, dass wir sehr gut vorbereitet und effektiv arbeiten mussten:
Zwei Tage zur Anreise von München über Delhi nach Leh, der Hauptstadt von Ladakh und dann die erforderliche Höhenanpassung von vier Tagen auf 3.500 m. Einem Tag Anfahrt mit Jeep in die Berge um Panjila folgen noch vier Tage Trekking über 5000 m hohe Pässe bis wir endlich in Lingshed ankommen würden und das Gleiche wieder zurück mit zwei Reservetagen falls etwas schief laufen sollte. Aber der Plan musste aufgehen.
Wir besuchten Leute, die schon einige Zeit in Lingshed verbracht hatten, um uns gründlich zu informieren. Wir wurden immer wieder gewarnt, nicht zu viel zu erwarten: Die Buddhisten sehen ihren Zustand als Karma, viel würden wir nicht ausrichten können. Aber eine stille Stimme in unserem Innersten trieb uns zu detaillierten Vorbereitungen und Sammelaktionen für die Kinder in dieser sehr armen Region an. Auf Anregung des Freundeskreises gründeten wir den Verein Ladakh-Hilfe e.V., um der Aktion einen offiziellen Rahmen zu geben. Ein 120 l Packsack war gestopft voll mit Hilfsgütern und Materialien zur Behandlung von Rigzin. Über die Tante des Kindes, eine in Banglore, Südindien, lebende Nonne, erhielten wir per e-mail mehr Informationen über die Familie und fanden heraus, dass das Kind im Juni 2003 auf dem Rücken der Mutter über die Berge nach Leh gebracht worden war und zum ersten mal von einem Arzt untersucht wurde. Seine Diagnose: Cerebral Palsy, floppy type.
Es geht los
Nachdem unsere persönliche Ausrüstung vervollständigt war und jedes freie Wochenende im August in den Bergen beim Training verbracht wurde, ging es am 30. August los. Wir flogen über Delhi nach Leh und landeten in einer für uns völlig fremden Welt. Der anfängliche Kulturschock wich sofort unbändiger Neugier für Land und Leute und wir verbrachten die vier notwendigen Tage in Leh mit weiteren Vorbereitungen und Einkäufen für die Reise. Mit Entsetzen registrierten wir den ganzen Müll, den Mangel an Hygiene und fliesendem Wasser, den Staub und Dreck. Die starke militärische Präsenz in Stadt und Umgebung erinnerte an die mulmige Nähe der Krisengebiete Kaschmir und Pakistan. Mit Hilfe eines Lamas wurde unsere Jeepreise nach Panjila arrangiert: Zwei Nonnen sollten uns begleiten und auf der Reise unter diesen für uns ungewohnten Umständen kochen. Mit Klöster Besichtigungen und einem platten Reifen brauchten wir über den Himonk, die höchste und längste Bergstraße der Welt, einen ganzen Tag, um an den Ausgangsort des Trecks zu gelangen. Unser Horseman Tashi holte uns am frühen Morgen ab und wir luden die Packsäcke, Säcke mit Essen, Kocher und Kerosinkanister auf die zwei Pferde. Inmitten einer beeindruckenden Bergwüste, entlang silbrigen Gletscherflüssen folgten wir dem einzigen Weg bergauf, bergab. Heiße Sonne bei Tag, eisige Kälte bei Nacht und am vierten Tag der höchste Pass, der Senge La mit 5050 m. Unsere Mägen kamen mit der neuen Kost nicht so ganz zurecht, aber die grandiose Bergwelt entschädigte für alle Strapazen.
In Lingshed
Endlich konnten wir unsere kleine Rigzin in die Arme nehmen. Ihre Mutter hatte sehnsüchtig auf uns gewartet und war uns entgegen gerannt. Von wegen Karma und Annahme: Wir fanden eine Familie, die zwar in mittelalterlichen Verhältnissen lebt, aber sich nichts sehnlicher wünscht, als dass der kleinen Rigzin geholfen wird. Nachdem wir uns im Nonnenkloster unter der neugierigen Aufsicht von 18 Nonnen zweckmäßig eingerichtet hatten, starteten wir sofort mit der Arbeit.
Die erste Befundaufnahme im Freien unter großen Weidenbäumen ergab folgendes.
Allgemeinzustand
Ein stark Entwicklungsverzögertes und unterernährtes fünfjähriges Kind mit Streckspastik, aber guter Kopfkontrolle. Sie ist wach und aufmerksam, aber leicht ablenkbar.
Funktionen
Keine Stützfunktion in den Armen: In Bauchlage kann sie den Kopf heben, bringt aber die Arme nicht nach vorn. Der rechte Arme hat gute Greiffunktion und sie führt auf Anweisung der Mutter mit der Hand auch Grußbewegungen aus. Keine Funktion in der linken Hand oder dem Arm. Die Beine und Hüfte sind gut beweglich, was wahrscheinlich auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass die Mutter, Schwester und Oma sie viel auf dem Rücken tragen. Die linke Seite ist mehr betroffen und steifer.
Rigzin kann nicht sprechen, teilt sich aber durch entsprechende gutturale Laute recht gut mit und lässt dadurch ihre Mutter wissen, wenn sie zur Toilette muss oder „die Hosen voll“ hat. Auch wenn das Kind auf dem Schoß gehalten wird, drückt es bei jeder Aufregung oder Äußerung in die Extension.
Orofazialer Trakt
Der Mund steht oft sehr weit offen. Die obere Zahnreihe ist schwarz und verfault, die untere völlig gesund. Ein deutscher Zahnarzt, der sich mit seiner Familie zufällig in der Gegend befand, schaute sich das Kind an und meinte, ihr Zungenbändchen sei zu kurz. Mit einer einfachen Operation am Zungenbändchen könnte ihre Sprechfähigkeit eventuell gebessert werden. Das Kind wird von Mutter und Großmutter mit dem Löffel so gefüttert, dass die Nahrung am Innenrand der oberen Zahnreihe abgestreift wird und das Kind es nur noch schlucken braucht. Bei der näheren Untersuchung und Beobachtung stellte ich fest, dass sie keine Mahl- oder Lateralbewegung im Kiefer zeigte und sich auch gegen diese Fazilitation wehrte. Die gesamte Nahrung wird mit der Zunge zerdrückt und geschluckt. Keine Kunst bei der einfachen Kost von Tsampa, einem gerösteten Gerstenmehl, das mit Tee/Wasser und Zucker vermischt wird. Ein Stück Chapati (Mehlfladen), das sie mit ihrer rechten hält, wird eingespeichelt, mit der Zunge zerdrückt und geschluckt, nicht gekaut. Sie kann beim Essen den Mund schließen und hat keine Schwierigkeiten beim Schlucken. Rigzin bekommt von ihrer Mutter hauptsächlich Chang, selbst gebrautes Bier, zu trinken. Dass es Bier war, bemerkten wir allerdings erst, als es uns angeboten wurde! Die Verständigung war nicht die Beste: Ein paar Brocken in English und Ladakhi und viele lustige Missverständnisse. Als ich der Mutter erklärte, dass das Gehirn des Kindes schon geschädigt war und Bier diesen Zustand nicht gerade verbesserte, wurde ab sofort Tee ohne Zucker verabreicht. Ich hatte ihr nahe gelegt, dass Zucker für die Zähne, vor allen Dingen für die nachkommenden, auch nicht so toll wäre. Gott sei Dank bestärkte mich der Zahnarzt in dieser Ansicht kräftig.
Therapie
Wir therapierten jeden Tag vier Stunden. Mein Mann half mir so gut es ging. Die Mutter oder Großmutter waren immer dabei und reichten uns unablässig den unvermeidlichen „Black Tea“. Sie wurden von mir eingehend in das Handling eingewiesen.
Ein mitgebrachter Autoschlauch wurde aufgeblasen und zum täglichen therapeutischen Mittelpunkt. Durch die Lagerung in der Mitte bot sich eine hervorragende Ausgangsstellung zur Arbeit mit den Händen, außen platziert konnte ich die Beugung in Hüfte und Knie fazilitieren und die Stützfunktion der Unterarme auf dem Schlauch fördern. Das Greifspielzeug und die Sprechpuppe, die wir mitgebracht hatten, fand nicht nur bei Rigzin und ihrer Familie Gefallen und Freude: Nachbarn kamen von überall um das Wunderpüppchen „Mama, Papa“ sprechen zu hören. Durch das „Weichmachen“ des Rumpfes, durch Rotationen, Beugen und Drehen versprach ich mir auch eine beginnende Funktion in der nie geförderten linken Hand. Anfangs war es ein Kampf. Das kleine Kind bot einen enormen Widerstand, aber sie lernte so schnell. Da ich sie vier Stunden am Stück in meiner Obhut hatte, konnte ich sie auch beim Essen und Trinken begleiten. Sie schien immer hungrig. Wir fingen an, zusätzlich Lebensmittel mitzubringen und sie „lebte“ regelrecht auf. Sie lernte sich alleine mit dem Löffel zu füttern.
Es schien uns, als ob Rigzin nur auf diese Stimuli gewartet hätte, denn eine erstaunliche Änderung fand innerhalb kurzer Zeit statt. Ihre Konzentrationsfähigkeit verbesserte sich enorm (vielleicht weil sie kein Bier mehr bekam?), die Streckspastik verschwand fast völlig, sie begann den linken Arm zu bewegen und die Hand zu öffnen und zu greifen, der rechte Arm wurde stützend eingesetzt. Sie lernte sich alleine vom Bauch auf den Rücken zu drehen und mit wenig Hilfe vom Rücken auf den Bauch. Mein Mann baute ihr eine primitive Hängematte zwischen den Weiden, die ihre Wahrnehmung förderte. Wir gaben einen speziellen Stuhl für sie in Auftrag nach einem technischen Plan, den mein Mann anhand Rigzin’s Körpermaße zeichnete. Der örtliche Tischler fertigte diesen Stuhl perfekt nach Vorbild an und Rigzin kam nach einer Stunde Gewöhnung im Stuhl sofort zum aufrechten Sitzen.
Nach einer Woche Leben im Nonnenkloster waren wir gezwungen uns eine andere Unterkunft zu suchen, da der tägliche Weg zu Rigzin und zurück mit insgesamt 1 ½ Stunden steil bergauf und bergab zuviel Zeit in Anspruch nahm. Um Kraft und Energie zu sparen zogen wir in einen primitiven Raum im so genannten „Hotel Lingshed“ um. Von dort betrug der Weg einfach nur noch 20 Minuten. Wir verteilten die vielen Kinderschuhe, Spielsachen und Kleider unter den armen Familien, die uns dann auch immer wieder in ihre Häuser zum Essen einluden.
Beobachten
Wir therapierten fast immer im Freien mit Blick in das Tal und in die Berge. Für mich war diese Art von Physiotherapie die Schönste, die man sich vorstellen kann. An einem besonders sonnigen Tag saß Rigzin auf meinem Schoß und ich sang ihr Lieder vor. Ich hatte gelernt, dass Kind einfach zu beobachten und auf ihre Bewegungen und Ansätze einzugehen. Also beobachtete ich weiter und stellte erstaunt fest, dass auch ich beobachtet wurde. Aufmerksam war sie jeder meiner Bewegungen gefolgt, auch der, dass ich ständig unbewusst meine Nase mit der linken Hand abputzte. Sie fing an, ihre Nase mit ihrem linken! Handrücken zu „putzen“. Ich gab ihr ein Taschentuch und die schnäuzte kräftig und imitierte danach alles was wir ihr vormachten. Ich gab ihr Kuli und Papier und sie kritzelte, weil sie das bei mir gesehen hatte, als ich mir Notizen machte. Es war eine riesige Freude, mit diesem fröhlichen und ausgeglichenen Kind zu arbeiten. Nachbarn kamen täglich vorbei, um Rigzin’s Fortschritte zu bewundern. Ich glaube, dass sie durch unsere Beachtung aus dem Schattendasein in das Licht des Dorfgeschehens gerückt wurde und ab jetzt mehr Stimuli erhält. Wir nahmen Abschied mit einem weinenden und einem lachenden Auge: Das Kind und die Menschen waren zu unserer Familie geworden, aber wir sehnten uns auch nach einer staub- und schmutzfreien Zone mit fließendem warmen Wasser und abwechslungsreicher Nahrung.
Vier Tage ging es in eisiger Kälte zurück und in Leh verbrachten wir noch vier Tage für die Kontaktaufnahme mit Ärzten, Zahnärzten und Krankenhaus um für Rigzin’s Versorgung alles vorzubereiten. Wir nahmen Kontakt auf mit dem Namgyal Institute fort he Handicapped in Leh und fanden eine moderne Organisation mit respektablen Zielen in einem sauberen, großen Haus vor. Diese gebildeten Frauen zeigten uns im ganzen Einzugsgebiet behinderte Kinder und ihre Probleme. Es gibt in ganz Ladakh keine professionelle Physiotherpeuten und keinen Orthopädietechniker. Wir stehen weiterhin in lebhaftem Kontakt mit der Organisation. Rigzin wird zurzeit im Krankenhaus in Leh an ihrer Zunge operiert und dann mitsamt ihrer Mutter dort den Winter über betreut.
Unser gemeinsames Ziel: Das Institut betreibt ein Hostel für ca. 6-10 behinderte Kinder aus den „Remote Areas“. Diese Kinder können monatweise dort betreut werden, bevorzugt während des Winters. Sie werden in die öffentliche Schule eingegliedert. Die Lehrer erhalten eine entsprechende Ausbildung durch das Institut. Für diese Arbeit mit den Behinderten werden freiwillige Fachkräfte gesucht, die ein paar Monate oder länger ihre Arbeitkraft zur Verfügung stellen. Sie sollen in Leh die Einheimischen anlernen, mit lokalen Mitteln arbeiten und die Kinder betreuen.
Wir fanden die Freiwilligen, sie kamen in Scharen und stellten das Land mit ihrer Begeisterung auf den Kopf.
Wie es weitergeht mit unseren Abenteuern und den Erlebnissen der freiwilligen Physiotherapeuten erfahren Sie im nächsten Bericht.
Fortsetzung folgt!
Hallo Frau Kostial, ich bin sehr beeindruckt von Ihrem Engagement und Ihrem Bericht. Ich freue mich schon auf eine Fortsetzung und wünsche Ihnen viel Erfolg und viele Nachahmer.