7. Direkt aus Ladakh
Ich kann mich noch gut and die Winter meiner Kindheit erinnern: Im Wohnzimmer gab es einen Ölofen, der wunderbare Wärme verbreitete. Aber in unsere unbeheizten Schlafzimmer mussten wir nachts eine Bettflasche mitnehmen. Es noch keine Zentralheizung und das Familienleben spielte sich in Küche und Wohnzimmer ab. So ist es jetzt in Ladakh, und doch noch viel anders. Das Brennmaterial ist sehr knapp, und die kleinen Holz- und Kerosinöfen werden erst im November herausgeholt, wenn es sich die Familien leisten können und falls sie Platz dazu haben. Kerosin, Gas und Holz wird im Winter rationiert, nur soundsoviel pro Familie. Elektrische Geräte dürfen ab 15.11. nicht mehr benützt werden, außer TV und PC. Es wird strengstens kontrolliert, sogar mit Sanktionen. Beim Schreiben dieses Berichtes sitze ich in meinem Zimmer bei 13 °, eine Wärmeflasche an den Füßen, in Decken gewickelt. Mir ist nicht kalt, ich habe mich daran gewöhnt.
Ich möchte über eine Reise letzte Woche berichten, die uns das Frieren aufs Neue gelehrt hat. Zusammen mit meiner Kollegin Christine, einer Ergotherapeutin gerade im Einsatz, beschlossen wir eine Wochenendfahrt an den Tsomoririsee. Er liegt auf 4500 m etwa 180 km südlich von Leh in Richtung Manali, ein beliebtes Ausflugsziel für Ornitologen und bilderhungrige Touristen wie uns. Der Governmentbus kostet hin und zurück nur 400 INR, ca. 8 Euro. Ich hatte mir vorsichtshalber vorher noch eine fette Daunenjacke gekauft, ein „North Face“ Remake aus Nepal für 20 Euro. Unser Rucksack enthielt den Schlafsack, etwas Proviant und eine Flasche warmes Wasser.
Mit unseren Taschenlampen suchen wir 5:30 Uhr morgens unseren Weg durch das stille Leh, am Wegrand wollige Hundknäuel in Träumen und wiederkäuende Kühe, die uns nicht beachteten. Der kalte Wind pfeift uns um die Ohren, wir sind zu früh da. Man weiß hier nie, ob die Zeitangaben stimmen: Kommt man um 6 Uhr, kann es sein, dass der Bus schon weg ist. Kommt man um 5:30 Uhr, fährt der der Bus erst um 7 Uhr ab. Unsere Hoffnungen auf einen etwas komfortableren Bus werden zerschlagen, als wir das klapprige Gefährt mit seiner zerfetzten Einrichtung sehen. Nun ja, schlimmer kann es wohl nicht werden, denken wir und kämpfen um Plätze ganz vorne, die uns laut Platzkarte gar nicht zustehen. Aber die Ladakhis arrangieren sich mit uns und wir knattern los.
Heute sind wir froh, dass wir zusammengequetscht zu dritt auf der engen Bank sitzen, denn es ist sehr kalt und vor uns reißt eine Frau ständig das Fenster auf, weil ihr schlecht ist. Wer noch nie mit einem Governmentbus in einem Dritte Welt Land gereist ist, muss verstehen, dass diese billigen Fahrten bei der Bevölkerung sehr beliebt sind und ausgiebig genutzt werden. Nicht nur zum Menschentransport. Nein, wir sind nicht von gackernden Hühner umgeben (die überleben dort oben nicht), aber auf dem Dach des Busses und im Gang wird alles transportiert, das im entlegenen Haushalt von Nutzen ist: Gasflaschen, Kommoden, Säcke mit Mehl und Getreide, Radios in Stoff gewickelt und riesige, schmutzige Taschen mit undefinierbarem Inhalt. Außerdem hält der Bus in jedem noch so kleinen Dorf und am Wegrand, um Menschen und Lasten aufzunehmen und abzugeben. Wir schauen interessiert zu und genießen die vielen kleinen Kinder mit schwarzen Augen, die mit ihren bunt gekleideten Müttern um uns herum sitzen, geduldig und brav die lange Fahrt ausharrend. Die Sonne geht auf und anstatt von der beeindruckenden Bergwelt gefangen zu werden, lassen wir uns vom Schaukeln des Busses zu einem ausgiebigen Nickerchen hinreißen; und sind selbst erstaunt, in welchen unbequemen Positionen Schlaf möglich ist.
Drei Stunden später hält der Bus zum Frühstück, das wir bei einem freundlichen Tibeter einnehmen: Omelett mit Chapatis und Schwarztee. Die Weiterfahrt verfolgt den rauschenden Indus tief in den Himalaya hinein, vorbei an Bergdörfern und abgeernteten Feldern. Ich spüre, dass mir das Atmen schwerer fällt. Wir klettern immer höher und höher. Die Szene wechselt von Ackerbau zu Viehzucht. Um Nomadenzelte tummeln sich Herden von Schafen und Yaks und Unmengen von Eseln und Pferden. Ich bemerke gerade zu Christine, dass dieser Straßenabschnitt frisch geteert sein muss, als wir just in dem Moment auf einem holprigen, staubigen Feldweg aufsetzen, der uns schaukelnd bis zum Tsi Moriri führt. Große Hochachtung erfüllt mich vor diesen klapprigen Tata-Bussen, die diese Tortur jahrelang sicher überstehen und ihren Inhalt zuverlässig abliefern. Es gibt sehr wenige Unfälle, aber viele „Punktures“, Reifenpannen. Wir hatten Glück und auch ohne „Punktures“ waren wir froh, nach 10 Stunden nachmittags um 16 Uhr anzukommen, empfangen von wirbelnden Schneeflocken. Wir strecken unsere verkrampften Beine und Rücken und machten uns auf die Suche nach einer Bleibe. Als einzige Touristen dieser Jahreszeit fällt das nicht schwer. Von einem schwarz vermummten Gastwirt werden wir in ein schmutziges, eiskaltes Erkerzimmer mit einem "wunderschönen“ Ausblick auf den verschneiten See geführt.
Wir schnappen unsere Kameras, streunen durch das Dorf und brauchten nicht lange warten, bis uns interessante Objekte vor die Linse laufen. Ein einheimisches Ehepaar in Tracht und breitem Grinsen auf dem Gesicht treiben eine Gruppe schwer beladener Esel durch den Schnee vor sich her. Willig posieren sie auf unser Fragen hin und lachen herzlich, als wir ihnen die Aufnahmen auf dem Display zeigen. Inzwischen verzieht sich die dunkle Schneewolke und die Sonne umreisst die Berge um den 4500 m hoch gelegenen See. Wir wanden langsam am See entlang und ich spüre wieder, dass mir der 900 m Höhenunterschied zu Leh zu schaffen macht.
Das Dorf Tsomoriri, bestehend aus ca. 52 Familien, lebt hauptsächlich von der Pferde- und Eselzucht. Es wiehert und scharrt überall und ein Kind reitet lachend im wilden Vollgallopp auf einem schwarzen Esel über die Felder.
Die Dunkelheit treibt uns in die unwirtliche Gaststätte und ein junger, dick vermummter Inder kocht uns in der kleinen, dunklen Küche ein Essen. Er braucht lange, aber würzige und leckere Gerüche lassen unsere leeren Bäuche vor Erwartung knurren. Durch die großen Fenster beobachten wir die herein kriechende Dunkelheit und die kleinen Gestalten, die ihre Pferde in die Ställe bringen und andere wiederum herausführen.
Mit entsprechendem Appetit verschlingen wir das vorzügliche Essen bestehend aus Reis, Chapatis, Gemüse und Daal und trinken heißen Tee dazu. Ein größerer, gelber Vogel versucht vergebens durch die Fensterscheibe in die Stube zu gelangen und wir erahnen am Fensterbrett graue, huschende Gestalten und beginnen, uns Geistergeschichten zu erzählen.
Als wir mit allen unseren Klamotten ungewaschen in den Schlafsack kriechen, bibbern wir vor Kälte. Der freundliche Inder klopft an unsere Türe und bringt uns zusätzliche Decken. Ich kann fast nicht schlafen und bekomme im Laufe der Nacht rasende Kopfschmerzen. Bevor es hell wird, stehe ich auf und gehe ein wenig im Dorf spazieren. Über Nacht hat es fleißig geschneit und ich bin gespannt, ob der Bus überhaupt fahren kann. Meine Gedanken verstricken sich in Phantasien, ob und wie wir diese Kälte hier ein paar Tage durchstehen würden und ich traue mich nicht, diesen Überlegungen zu folgen.
Da entdecke ich den Bus, unter dessen Motor der Busfahrer ein kleines Feuer angezündet hat, um ihn zu erwärmen. Davon hatte ich nur in Verbindung mit Sibirien gehört. Der Busfahrer und sein Begleiter schlafen im Bus, kochen dort ihre Mahlzeiten und waschen sich im eiskalten Wasser vor dem Bus. Ich frage nach, wenn der Bus abfährt und er wackelt mit dem Kopf und meint, gegen 7 Uhr. Sie klagen über die Kälte und bieten mir einen Tee an, der gerade auf dem Beifahrersitz mit einem Kerosinkocher köchelt.
Es schneit wieder und Christine erscheint. Wir versuchen immer noch, mit ein paar Schnappschüssen die Eindrücke einzufangen. Meine Kopfschmerzen werden besser, als ich etwas trinke.
Um 7 Uhr sitzen wir als einzige Gäste im Bus und wundern uns. Der Busfahrer hupt nun laut und anhaltend und jetzt kommen sie so langsam an, die Einheimischen. Manche rennend, die meisten lachend und schwatzend. Als wir um 8 Uhr mit dem vollen und beladenen Bus abfahren, scheint die Sonne über den glitzernden Schnee und offenbart uns ein Panorama, das uns die Sprache verschlägt. Die vielen Stopps bieten Gelegenheit, schnell ein paar Aufnahmen zu machen und die Beine zu vertreten. Wir hüllen uns in die Schlafsäcke und bleiben während der Fahrt warm.
Der ungepflegte Bauer auf der Bank hinter uns spricht während der gesamten Fahrt eifrig dem Chang, dem selbstgebrauten Bier zu, um es genauso eifrig wieder aus dem Fenster zu befördern, begleitet von entsprechenden Geräuschen und Gerüchen.
Als wir nach erstaunlich genau 10 Stunden das etwas wärmere Leh erreichen, lassen wir uns nicht davon abhalten, erst mal in einem unbezeizten, kalten Restaurant den Versuch anzugehen, das warme Chowmein auch noch warm in den Mund zu bekommen, um das alles auch noch mit einem schönen, kalten, indischen Bier hinunterzuspülen…
ich habe schon mit Spannung auf den nächsten Teil gewartet, und bin wieder begeistert von den Eindrücken und Bildern!