6. Fortsetzung Ladakh "Gefährliche Umwege"
Cynthia Hunt, unsere amerikanische Begleiterin, drängte uns. Im 4.100 m hohen Kurambik brannte die Sonne, für uns ein Genuss, denn die Berge des Westhimalayas leuchteten in überirdischer Klarheit in den nahen Himmel.
„The glacier will melt extremely with this sun today. We have to hurry!“
Heute Nachmittag wurden wir im 1 ½ Stunden Fußmarsch tiefer gelegenen Domkhar erwartet. Es war Donnerstag und „Bus-Tag“. Einige Eltern aus der Umgebung wollten mit dem wöchentlichen Bus ins Dorf kommen, um uns ihre behinderten Kinder vorzustellen. Wir freuten uns auf die Abwechslung: Raus aus dem einsamen, rauen Kurambik am Fuße des Gletschers, runter in wärmere Gegenden mit Schulen und englisch sprechenden Menschen. Wir sollten in der Schule übernachten, am nächsten Morgen mit Hilfe der Lehrer weiter mit den Kindern arbeiten und dann am frühen Nachmittag wieder über die Brücke zurück nach Kurambik.
Unseren Zeitplan bestimmte die Natur. Morgens war der Bach am einfachsten zum queren. Erst im Laufe des Tages, wenn viel Sonne schien, strömte die Gletscherschmelze in das Tal und riss alle Brücken mit sich. Die Einheimischen entfernten die kostbaren Balken, mit denen die provisorische Brücke gebaut wurde, meist! rechtzeitig und bauten die Brücke am nächsten Morgen wieder auf. Der reißende Fluss konnte nachmittags ab 15 Uhr nicht mehr passiert werden.
Da wir abends in der Schule essen und übernachten würden, nahmen wir nur unseren Schlafsack, ein paar Ladakhi Brote (harte, kleine, süßlich schmeckende Brötchen), Nüsse und eine warme Jacke mit. Cynthia nickte, als wir sie fragten, ob unsere Turnschuhe für den Trip ausreichen würden. Sie lebte schon seit 18 Jahren in diesem Land und hatte unzählige Monate in Kurambik verbracht.
Sie schleppte in ihrem Rucksack ihren kleinen Kocher mit, da sie aufgrund einer schweren Erkrankung eine bestimmte Diät einhalten musste und immer ihr eigenes Essen und ihren Tee kochte. Ich wunderte mich zwar oft, dass ihr Teller voll mit Reis und Gemüse war, das gleiche Essen, das die Einheimischen kochten. Aber im Laufe der Zeit durchschaute ich ihre „Krankheits“-Strategie ein wenig: Auf diese Weise umging sie sehr taktvoll die häufigen Einladungen in die Häuser der Einheimischen und die Angebote des furchtbaren Buttertees, ein für uns Westler fast ungenießbares Getränk (Schwarztee, Salz und ranzige Yakbutter..).
Die Sonne und das leuchtende Grün der Gerste beschwingten unsere Schritte auf dem Weg ins Tal. Kein Grund zur Sorge, denn es war erst 13 Uhr und das Schmelzwasser hatte seinen Höhenpunkt scheinbar noch nicht erreicht. Bis wir völlig überrascht vor der nicht vorhandenen Brücke standen und durch zischende Gischt auf die andere Seite blickten, von der aus unsere Kontaktler, die Lehrer, uns etwas zuriefen. Durch die extreme Sonneneinstrahlung schwoll der Gletscherbach minütlich steigernd zum reißenden, tobenden Ungeheuer, das große Felsbrocken grollend und polternd talwärts riss.
Unsere Freunde auf der anderen Seite schrieben kleine Nachrichten auf Zettel, banden sie mit Stofffetzen an Steine und warfen sie zu uns rüber. Eine andere Art von Kommunikation war durch das Toben des Wassers nicht möglich. Und Telefone gibt es da oben nicht und schon gar keine Handys.
Sie erzählten von einer intakten Brücke ca. 2 km weiter. Wir entschlossen uns zum Wagnis, auf unserer Seite Flussabwärts zu wandern, um auf der nächsten Brücke zu queren. Und wir hatten Eile, denn auch diese Brücke galt als gefährdet.
Anfangs schien es ganz leicht. Ein Kuhpfad führte über Felsen und wir kletterten über einige Steinmauern, die saftige Gerstenfelder einsäumten. Wir mussten immer höher auf den Berg, denn der Fluss schnitt sich in eine Schlucht. Unsere Freunde auf der anderen Seite verfolgten unsere Wanderung besorgt und versuchten uns immer wieder etwas zuzurufen. Schließlich waren wir so hoch, dass wir die Lehrer nur noch als kleine Punkte sahen. Der Hang sah gar nicht so schlimm aus. Cynthia querte vorsichtig stapfend mit ihren Bergstiefeln (sie besaß nur diese Schuhe) den Geröllhang. Wir folgten ihr zögernd. Ich sah Geröll unter ihren Schritten weg brechen und in Kaskaden den Hang hinunter stürzen. Anfangs fanden unsere Füße an einzelnen Felsen Halt, aber dann kam nur noch loser Schotter. Ich merkte, dass ich rutschte und blickte in die Tiefe und dann traf mich der Schock. Es gab nichts mehr zwischen mir und dem Fluss, der 100m tiefer durch die Schlucht tobte. Nichts für die Hände zum Festhalten und keinen Halt für die Füße, nur noch loser Schotter, der mich mit jedem Schritt in die Tiefe werfen wollte. Jürgen stoppte vor mir, auch er hatte Bedenken. Und Jürgen hat nie Angst! Wenn Jürgen Angst hat, dann habe ich schon Todesangst und ich geriet in Panik.
„Keinen Schritt weiter, ich kann nicht weiter,“ piepste ich und mein Herz schlug Stakkato, wahrend ich mit meinen Turnschuhen im Sand herumrutschte und vor Angst steif wankte.
„Dann drehen wir um, ich will auch nicht mehr weiter,“ tröstete mich Jürgen unsicher.
Aber wie dreht man an einem Hang um, der bei jedem Schritt nachgibt? Ich rief laut alle zur Verfügung stehenden Engel um Hilfe und betete. Sonst mache ich das leise. Jürgen rief Cynthia und sie kam zu meiner Rettung. Im Alter von 21 Jahren war sie als„professionelle“ Bergsteigerin bis auf 7000 m den Mount Everest hinaufgestiegen und dann im Himalaya „hängen“ geblieben.
„Kick them suckers in the dirt, as deep and as hard as you can,” und sie machte es mir vor und blieb unter mir. Ich folgte ihr willig und hielt die Klappe. Jürgen hatte dabei noch den Nerv, die Kamera zu zücken und Bilder zu machen. Er machte mich zynisch darauf aufmerksam, dass jetzt die Einheimischen, die uns von unten beobachteten, bestimmt über uns lachen, weil wir umkehren.
„Ist mir doch egal,“ fauchte ich, als wir wieder auf sicheren Felsen standen.
Still wanderten wir wieder zurück zur „Brücke“, jeder in eigene Gedanken versunken. Das Tosen des Baches schwoll im Laufe des Nachmittags zu einer kleinen Katastrophe, die Steine und Bäume mit sich riss. Wir beobachteten das Spektakel und fotografierten. Die gewaltige Energie und das Brüllen des tobenden Flusses löschte alle Gedanken und erfüllte uns mit Ehrfurcht und Respekt vor diesen Regionen.
Wir waren gezwungen, auf dieser Seite im Freien zu übernachten. Cynthia kochte heißes Wasser ab zum Trinken und wir teilten uns die Ladakhibrote und Nüsse.
Wir suchten uns einen einigermaßen ebenen Platz, hüllten uns in die Schlafsäcke und schliefen todmüde unter funkelnden Sternen ein. Wir wachten nachts immer wieder auf, weil unseren Hüften der harte Untergrund nicht so gefiel, aber die Sterne zwinkerten uns immer wieder ermutigend zu und schickten uns angenehme Träume.
Dieser Tag voller Extreme grub sich für immer mit jeder Einzelheit in mein Gedächtnis. Im Himalaya sind die Sterne so viel näher als in heimischen in Günzburg. Wir drei waren allein auf dieser Seite, aber nicht einsam. Wir hatten nicht viel, aber waren zufrieden. Der Boden war hart, aber ich war froh, dass ich lebte und ihn spüren konnte.
Der Morgen weckte uns mit eisiger Kälte und fröhlichen Männern auf der anderen Seite, die mühevoll versuchten, die Brücke unter Gefahr für ihr eigenes Leben wieder herzustellen.
Ich unterhielt mich mit den Einheimischen, die unserer Odyssee am Berg begleitet hatten. Sie standen riesige Ängste um uns aus und waren froh, dass wir wieder heil zurück kehrten.