Alle Tode - Reflexionen
Alle Tode
Alle Tode bin ich schon gestorben,
Alle Tode will ich wieder sterben,
Sterben den hölzernen Tod im Baum,
Sterben den steinernen Tod im Berg,
Irdenen Tod im Sand,
Blätternen Tod im knisternden Sommergras
Und den armen, blutigen Menschentod.
Blume will ich wieder geboren werden,
Baum und Gras will ich wieder geboren werden,
Fisch und Hirsch, Vogel und Schmetterling.
Und aus jeder Gestalt
Wird mich Sehnsucht reißen die Stufen
Zu den letzten Leiden,
Zu den Leiden des Menschen hinan.
O zitternd gespannter Bogen,
Wenn der Sehnsucht rasende Faust
Beide Pole des Lebens
Zueinander zu biegen verlangt!
Oft noch und oftmals wieder
Wirst du mich jagen von Tod zu Geburt
Der Gestaltung schmerzvolle Bahn,
Der Gestaltung herrliche Bahn.
Am letzten Sonntag, dem Volkstrauertag, hörten wir wohl alle Persönlichkeiten sprechen, wie sie gedachten der beiden Weltkriege, des Holocaust, der Heimatvertreibung und allem Leid und Tod vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Nicht leicht fällt es gewönlich dem Menschen, über etwas wie Tod und Sterben nachzudenken, nicht als ob der Sprecher durch sein öffentliches Gedenken den Tod beschwörte, nein, sondern da das Sterben und der Tod als scheinbar unüberwindbares Gesetz uns bewusster werden, aufgeweckt durch die Rede, die - mag sie noch so würdig und aus Respekt gesprochen sein - ein Bewusstseinslicht wirft in jene Tiefen unserer Seele, wo gewöhnlich Gefühle, Gedanken und Erinnerungen schlummern, die wir ganz individuell mit Tod und Sterben assoziieren.
So wichtig es ist, in adäquaterweise das Thema Tod zu behandeln, so wichtig erscheint es mir auch, dieses oftmals tabuisierte Thema unserer Gesellschaft einmal außerhalb der sozial allgemein sanktionierten Kontexte - etwa des Volkstrauertages - aufzugreifen.
Es ist merkwürdig, aber als Prüfstein der je realen, gleichsam existentiellen Weltanschauung, des >substantiellen Glaubens<, nicht dem der Lippen, sah und sehe ich das Sujet des menschlichen Sterbens und Todes an. Als ultimative Entscheidungsfrage stellt sich, was als so leicht zu verstehendes Phänomen gehandelt wird, ein Phänomen, das vielen selbstverständlicher und intelligibler, verstehbarer es kaum sein könnte - ich frage: stimmt das? Ist denn das Phänomen des Sterbens eines Menschen, der Tod, wirklich so einfach, so simpel, so leicht verstehbar - wie scheinbar sonst nichts? Was wissen wir denn wirklich vom Sterben eines Menschen? Vom Tode? Gewöhnlich fürchten wir uns doch nicht vor dem, was wir kennen, sondern vor dem was wir n i c h t kennen oder nur unzulänglich: wie wäre denn die wohl bei jedem Menschen latent oder manifest existente (wenngleich schlummernde) Todes f u r c h t zu deuten, wenn wir wirklich alles Wesentliche über das wüßten, was das Phänomen des Sterbens bedeutet? Wenn wir wirklich Gewißheit hätten, was Tod und Sterben für den Menschen bedeutet, dann wäre mir die so allgemein verbreitete Todesfurcht ein noch viel größeres Rätsel! Allerdings ist es eines, nur ein unzulängliches sprich: kein wirkliches Wissen zu haben, ein anderes aber, dieses Nicht-Wissen zu erkennen. Es ist eben nicht sozial besonders schmeichelnd, opportun und anerkennenswert, einzugestehen: ich weiß es nicht! Dennoch schätze ich denjenigen hoch, der erkennt, was er weiß, und erkennt, was er nicht weiß. Wer die Grenzen seines Erkennens nicht erfasst, neigt zur Hybris, Hybris aber ist das Gegenteil wahren Mutes, Schöpferkraft und Forscherwillen. Der Forscher, der schon allein aus Gründen seines Images und seines Prestiges in der Öffentlichkeit und im akademischen Leben W i s s e n vortäuschen muss, um nicht sein Gesicht zu verlieren, ist übel dran, denn gewöhnlich wird ihn diese Täuschung im Forschen auch nicht mehr verlassen. Wer aber - wohlwissend um seine Grenzen, die seines Erkennens und seines Wissens - sich aufmacht, gerade jene Wesensgründe menschlichen Daseins zu erforschen, die an Geburt und Tod rühren, dem getraue ich auch zu, allmählich vielleicht auch Wege zu finden, die Horizonte menschlichen Wissens in b e i d e Richtungen zu weiten. Nicht dass ich missverstanden werde: der schlechthin bekannte Fakt, dass der menschliche Organismus ebenso eine begrenzte Lebensdauer aufweist wie alle Lebewesen, dass Alterung ein Umstand ist, auf den wohl mancher Alchemist vergeblich nach einem “Mittelchen” sann, um seine Lebensspanne zu verlängern, Lebensqualität wennmöglich zu vergrößern - darin ähnelt unsere Zeit (mit weit größerem Erfolg anscheinend) verblüffend dem Mittelalter, da mancher Quacksalber die Hoffnungen seiner Mitmenschen mit entweder wertlosem oder sogar gefährlichen Substanzen betrog. Heute wie wohl zu allen Zeiten gilt eine lange Lebenszeit vor allem dann (und meist nur dann) als wünschenswert, wenn Lebensqualität, Lebensfreude, Teilhabe am Leben der wachsenden Zahl der Lebensjahre zugesellt sind. Unser Wissen scheint bis dahin zu reichen, da für den naturwissenschaftlichen Verstand die Betrachtung aufhört: beim Ableben des menschlichen Organismus. Punkt: ja, wirklich Punkt! Denn alles, was von naturwissenschaftlicher Seite über die Un-möglichkeit eines “Danach” geäußert wird, gehört ebenso in das Reich illusionärer Spekulationen, wie manches, das allein durch den verständlichen Selbsterhaltungstrieb und den Hoffnungen das Wort spricht. Aber herzugehen und zu postulieren, “man kann über alles, was posthum dem Menschen widerfahren mag, nichts sagen”, hat nur für denjenigen Gültigkeit, der sich auf die bestehenden naturwissenschaftlichen Paradigmen beschränken will. Wer hätte vor zwei Tausend Jahren beispielsweise den uralten menschheitlichen Traum vom Fliegen vernünftigerweise als realisierbar angesehen? Damals gab es noch nicht annähernd die Mittel, dass ein Mensch fliegen könne, am allerwenigsten, dass er lange Flugreisen um die Welt hätte erwägen mögen. Die Menschheit schritt weiter. Jahrhunderte des Forschens, der Zivilisation und Technik schufen die Mittel, und heute ist eine Flugreise für viele ganz normal. Keiner denkt mehr daran, dass die Mittel erst gefunden werden mussten, um eine Fähigkeit zu erlangen, die es vorher nicht gab - für den Menschen. Meist zielt die menschliche Fortschrittsgläubigkeit (auch eine sehr wirksame Form der Gläubigkeit) auf die mehr oder minder kontinuierliche Progression der Menschheit in der Forschung und bei technologischen Innovationen. Schade, wie ich finde, denn lehrt uns nicht gerade auch die moderne Evolutionslehre, dass der Mensch geistig, seelisch, ja psycho-sozial und in vielfacher Hinsicht entwickelt hat? Dass ehemals ehern erschienen Erkenntnisgrenzen überschritten und neue Horizonte entdeckt worden sind? Es geht nicht an, zu behaupten: “Hinter diesem Horizont kommt nichts! Da ist nichts! Da wird nie etwas sein!” Wohl stünde es vielen an, sich damit zu bescheiden, zu konstatieren: “Was jenseits dieser Pforte liegt, entzieht sich meinem naturwissenschaftlichen Verstehen und Wissen.” Niemand kann eine Fähigkeit erlangen, von der er meint, sie sei prinzipiell unmöglich. Erst wenn ich anfange, mir vorzustellen, w i e ich mich als Mensch entwickeln kann, werde ich beginnen, einen Weg zu gehen, der mich auf eben diese Weiterentwicklung bringt: Und hätten wir als Menschen denn wirklich schon so viel erreicht, dass uns ein Fortschritt in unserer ganzen Menschlichkeit so überflüssig schiene? Gäbe es nicht zahlreiche Gründe, sich motiviert zu fühlen, Fortschritte im Menschsein zu machen? Erst dann - so meine ich - gedenken wir im wahrsten und vollstem Sinne des Respekts vor den in allen Katastrophen Verschiedenen, wenn wir uns mit ihnen in einer Reihe der Generationen sehen, die Menschlichkeit als beständiges Z i e l und A u f g a b e ansehen, das es zu erreichen und zu erfüllen gilt. Wenn wir Menschlichkeit als höchstes, erhabenstes Ziel ansehen und unsere Aufgabe, dorthin weiterzukommen, dann können wir auch verantwortungsvoll und gewissenhaft uns bemühen, die technologische Progression voranzutreiben, die ansonsten leicht als Richterspruch auf uns zurückkommen könnte.-
Wer meine Reflexionen zu Hesses Gedicht liest, merkt gewiss, dass sie keine Interpretation darstellen, sondern eher manche Aspekte, die i m Gedicht anklingen können, ausführen.
Es steckt noch weit mehr in diesem Gedicht, und es lohnt sich, herauszuholen, was drinnen steckt.
Gerne wende ich mich, wenn jemand interpretativ kommentieren möchte, diesem zu.-