Woyzeck - ein modernes Sozialdrama?
Woyzeck - Büchners sozialphilosophisches Drama im Tanzhaus
Wer Georg Büchners (1813 bis 1837) bewusstseins- und sozialkritisches Bühnenstück zur Aufführung bringt, wagt sich, obgleich es sich bei diesem Drama um eines der meistgespielten handelt, in das viegestaltige Labyrinth eines radikalen, fatalistisch und zutiefst tragisch dominierten Gedankengebäudes hinein, das wesenhaft Abgründe und Tiefen der menschlichen Existenz zu erforschen sucht.
Um so erfreulicher ist es, dass das Landestheater Dinkelsbühl (Regie: Peter Cahn) dieses anspruchsvolle Wagnis mit Bravour meisterte: das zumeist junge Publikum war begeistert.
Worum geht es in Woyzeck? Die Handlung lässt nichts von einer tiefgründigen Komplexität ahnen, das diesem Stück in jeder Szene, ja in jeder Regung der handelnden und leidenden Protagonisten innewohnt: Woyzeck, einfach Soldat aus ärmlichen Verhältnissen (exzellent gespielt von Gosta Liptow) ermordet aus Eifersucht seine Geliebte Marie (Maike Frank), die ein Kind von ihm hat, als er sukzessive entdeckt, dass sie ihn mit Tambourmajor (Andreas Peteratzinger) betrügt. Ein Gericht verurteilt ihn „im Namen des Volkes“ zum Tode, da seine Zurechnungsfähigkeit „zweifelsfrei“ erwiesen wurde.
Nicht chronologisch ist das Drama aufgebaut, das uns gleich anfangs Woyzeck in seiner Gefägniszelle zeigt. Woyzeck bleibt vom Anfang bis Ende des Stücks in diesen grauen Mauern, erinnert sich, seine Erinnerungen tauchen sichtbar vor ihm auf, die Richter, der Arzt, der monatelang ihn als „Versuchstier“ missbrauchte, Marie mit einem Kinderwagen, Andres, ein debiler Kamerad, Käthe, eine Prostituierte.
Und da sind die mit französischem Akzent sprechenden Schausteller, wie sie zu Büchners Zeiten das Volk belustigten: ein intelligentes Pferd, dressiert, das rechnen kann, das dem Publikum nahe legt, der Mensch sei ein „vernünftiges Tier“, zumal das Pferd als „professeur“ an einer Universität lehrt.
Der Mensch: ein Produkt seines sozialen Milieus? Unfähig zur Schuld, da ausgeliefert den Faktoren seiner Sozialisation? Dümmlich steht Woyzeck da am Anfang, unbeholfen, wird herumgeschuppst, vom betrunkenen Major geschlagen und verprügelt - grundlos. Moral? Wer kann sich „Moral“ leisten, wenn der Brotkorb meist leer ist ... .
Und da ist auch noch der „wissenschaftlich“ an ihm interessierte Arzt, der ihm eine „Erbsendiät“ verordnet hat und sich über die diversen (und vermeintlichen) Auswirkungen dieser Ernährung entzückt, der Woyzeck belohnt, wenn dieser mehr und mehr Symptome zeigt.
Wenn sein Hauptmann, dem er wie ein Knecht dient, aufzeigt, wie wenig soziales Ansehen Woyzecks uneheliches Kind hat und wohl - nach bürgerlich-pharisäischem Gutdünken - auch vor Gott habe, erwidert dieser nur: „Lasset die Kindlein zu mir kommen!“
...steht doch da in der Bibel ... .
Gesetzmäßig, unausweichlich, determiniert verläuft Woyzecks Leben und Geschichte: sie endet - und nach Büchners Weltbild: m u s s - sie enden im tragischen Scheitern, Opfer und Täter in einer Person.
Wie wenig oder wie wieviel man Büchners philosophischer und politischer Prämisse zu „Woyzeck“ auch abgewinnen kann: dieses Drama, das der Dichter uns als Fragment hinterlassen hat, bleibt aktuell, stößt an, und ist ein „dramatisches Forum" vieler sozialer und menschlicher Existenzfragen, wie sie ein großer Dichterphilosoph - wenngleich unter dem Einfluss des damals stark prägenden Materialismus - nur aufwerfen konnte.-
Eine entsprechende Rezension erscheint demnächst in der WZ. Mein Dank gilt dem Ensemble, insbesondere Regisseur Peter Cahn und Woyzeck-Darsteller Gosta Liptow, mit denen ich mich vor bzw. nach der Vorstellung über Büchners Drama unterhalten habe.-