Das neue regionale Standardwerk: Mühlen in und um Hannover
Aktuelle Bestandsaufnahme der Mühlen und Müllerei in Region und Stadt Hannover
Vor über fünfzig Jahren erschien 1964 erstmalig Wilhelm Kleebergs „Niedersächsische Mühlengeschichte“, die Neuauflage von 1978 war leicht überarbeitet. Sie war ein großformatiges umfassendes Werk, das schnell den Ruf eines Standardwerkes bekam und bis heute noch hat. Die inhaltliche Spannweite reicht von der knapp dargestellten Entwicklung des Mühlenwesens und der Müllerei über einige sozialhistorische Ausführungen bis zu Informationstexten und Scharzweiß-Fotos über alle Mühlen in Niedersachsen, die dem Verfasser damals zugänglich waren. Herausgegeben wurde dieses herausragende Buch durch die damalige niedersächsische Denkmalpflege und die „Vereinigung zur Erhaltung von Wind- und Wassermühlen in Niedersachsen“. Das Werk war für alle Interessierten wegen seiner Fülle beeindruckend - und war doch nur ein zeitbedingter Extrakt.
Als die heutigen Autoren Rüdiger Hagen und Wolfgang Neß vor Jahren ihr neues Forschungsvorhaben angingen, standen sie einerseits vor den großen Fußspuren Kleebergs, was den Buchinhalt angeht, andererseits vor dem Sachverhalt, dass die Quellenlage besser geworden, aber die Bedrohung der Mühlen – Denkmäler der Kulturgeschichte - nicht geschwunden, sondern in den fünfzig Jahren bis heute immer weiter fortgeschritten ist. Fand Kleeberg noch eine Mühlenruine oder eine tätige Windmühle vor, so hat man heute vielleicht ein inzwischen bebautes Grundstück ohne Mühlenspuren oder eine übrig gebliebene Wohn- oder Museumsmühle vor sich. Der Mühlenenthousiast Heinz Koberg dokumentierte 1987 einen Zwischenstand mit seinem schön bebilderten Buch „Mühlen rund um Hannover“. Es bildet eine Brücke von Kleeberg in unsere Zeit hinein, unterscheidet sich jedoch durch seine journalistische Prägung.
Die neue Buchreihe
In der Denkmalpflege wurde mit Kleebergs Buch klar, dass für neuere Forschungen und Darstellungen eine Konzeptänderung notwendig war. Daher wurde beschlossen, zukünftig statt eines neuen aktuellen Gesamtüberblicks eine Buchreihe zu begründen, die einzelne Regionen Niedersachsens abdeckt.
Als erstes Beispiel erschien von Rüdiger Wormuth „Mühlen in Niedersachsen und Bremen, Die Mittelweserregion Landkreise Diepholz und Nienburg/Weser“, Hannover 2013. Jetzt folgt von Rüdiger Hagen und Wolfgang Neß „Mühlen in Niedersachsen, Region und Stadt Hannover“ herausgegeben vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege und der Mühlenvereinigung Niedersachsen-Bremen.
Die Autoren und ihr Werk
Die beiden Autoren sind seit langem ausgewiesene Mühlenexperten: Rüdiger Hagen ist u.a. gelernter Müller, Mühlenbautechniker, Autor verschiedener Fachbücher, Wolfgang Neß arbeitete seit 1979 beim Landesamt für Denkmalpflege, zuständig für Industrie- und Kulturdenkmäler, er war Gutachter, Autor verschiedener Publikationen und war einige Jahre Geschäftsführer in der Mühlenvereinigung. Dieses Buch ist die Quintessenz ihrer über zwanzigjährigen Forschungsarbeit. Und schon jetzt ist ohne Übertreibung leicht zu erkennen, dass für die nächsten Jahrzehnte das neue regionale Standardwerk über Mühlen in und um Hannover vorliegt!
Auch hier handelt es sich zum ein Großformat, gedruckt in einer schönen Kunstbuch-Anmutung, wie man sie seit langem vom „Michael Imhof Verlag“ (http://www.imhof-verlag.de/) kennt, in dem auch Wormuths Buch erschien. Es hat einen Hardcover-Einband und einen Umfang von 400 Seiten, passend zweispaltig gesetzt.
Zum Inhalt
Das Buch gliedert sich in zwei Hauptteile, in einen „Mühlengeschichtlichen Überblick“ von knapp 90 Seiten und einen „Katalog“, der den „Mühlenbestand in den Gemeinden und Stadtteilen“ in und um Hannover umfasst. Dieser Teil hat etwa 300 Seiten Umfang.
Im mühlengeschichtllichen Überblick beginnt die Darstellung nicht – wie so häufig – mit dem Reibstein, der Handdrehmühle, der Querne, oder Vitruvius, dem römischen „Architekten“ und seiner Darstellung einer Wassermühle, sondern mit „unseren“ ehemaligen regionalen Mühlenarten, beginnend mit Wassermühlen, die auch im hannoverschen Bereich ab 900 n.Chr. den ältesten Mühlentypus darstellen. Es folgen Ausführungen über Windmühlen, von denen die ersten um 1300 erwähnt werden.
Eine Neuerung gegenüber Kleeberg besteht darin, dass auch alle weiteren Mühlenarten wie Dampf-, Ross- und Motormühlen in ihrer historischen und technischen Entwicklung erwähnt und an typischen charakteristischen Einzelbeispielen durch Fotos (sofern überliefert) und Zeichnungen beschrieben werden.
Ein Spezialfall für die Region stellt die Erwähnung einer Schiffmühle in Mandelsloh dar, von der 1982 in der Leine Holzreste gefunden wurden. Dieses Holz wurden Anfang des 14. Jh. gefällt. Die Fundstücke werden häufig als „Einbaum“ bezeichnet, sind aber nach dieser Darstellung Belege für eine Schiffmühle, wie sie auch anderen Orten in Aller und Leine im ausgehenden Mittelalter zum Einsatz kamen.
Ein eigener Bereich umfasst weiterhin Mühlenbaufirmen und Zulieferindustrie, die in der allgemeinen Mühlenliteratur selten erwähnt werden oder eine Speziallektüre darstellen. - Im Bereich der Stadt Hannover werden über die reinen Mühlen hinaus noch die Wasserkraftanlagen erwähnt, sogenannte „Wasserkünste“ (alter Ausdruck für große mechanische Anlagen in der frühen Neuzeit), die der Wasserversorgung, der Energiegewinnung oder dem Betrieb der Bewässerung und der großen Fontäne im Herrenhäuser Garten dienten.
„Mühlenfeinde“
Im „Sachsenspiegel“, dem bedeutensden hochmittelalterlichen Rechtsbuch um 1220, findet sich das Gesetz, dass die Mühlen ein Ort des Friedens seien und Verstöße dagegen schwer bestraft würden. Dennoch waren sie in kriegerischen Auseinandersetzungen immer ein hervorragendes Ziel der Zerstörung. Auch das ist in diesem Buch nachzulesen. - Ein anderes Feindbild für Mühlen stellen die unbeherrschbaren Naturgewalten dar, die immer wieder ihren Tribut forderten. 2007 war „Kyrill“ der herausragende Orkan, der auch in der hannoverschen Region eine Spur von Verwüstungen z.B. an der Bockwindmühle in Dudensen zurück ließ,
Mühlen - heute
Die Mühlengesetze von 1957, bedeutende Ursache des „Mühlensterbens“, forcierten im Bereich der Wind- und Wassermühlen flächendeckenden Niedergang. In den 80er Jahren jedoch entwickelte sich eine zarte Renaissance von Wiederbesinnung, Restauration und Umnutzung. Den veränderten Bedingungen, wie wir sie heute vorfinden, ist das systematisierende Unterkapitel „Die jüngere Entwicklung im Mühlenwesen“ gewidmet – auch das ein Neuland in der gegenwärtigen Literatur.
Bestandsaufnahme
Diesem ersten informativen Teil folgt der 300-seitige „Katalog“, der den feststellbaren „Mühlenbestand in den Gemeinden und Stadtteilen“ umfasst und der Gliederung der heutigen politischen Gemeinden folgt. Insgesamt sind 427 nachgewiesene Mühlen im Untersuchungsgebiet aufgeführt, darunter – erstaunlicherweise! – ca. 70 allein im Stadtgebiet Hannover!
Die einzelnen Beiträge sind unterschiedlich lang, je nach zugrunde liegenden Quellen, aber auch nach dem spezifischen Beispielcharakter der jeweiligen Mühle in technikgeschichtlicher (Geräte, Ausstattung…) oder anderer Hinsicht: Widmet Kleeberg 1978 den Mühlen in Wettmar16 Zeilen, in denen nur die „Wellmühle“ und die Bockwindmühle erwähnt werden, so finden wir bei Hagen/Neß 6 Seiten über die drei nachweisbaren Wettmarer Mühlen und eine textliche und bildliche Dokumentation der Translozierung (räumliche Versetzung) und Restauration der Bockwindmühle.
Erwähnt Kleeberg am Beispiel Abbensen zwei Mühlen, so sind es bei Hagen/Neß drei und der Erdholländer erfährt besondere Aufmerksamkeit, weil er als einziges Beispiel in der Wedemark noch einen Steert bzw. ein Krühgestänge zum Vordrehen besitzt.
Gestaltung
Neben den fundierten und inhaltlich differenzierten Texten ist auch dieses Produkt des „Michael Imhof Verlags“ eine Augenweide: Über 600 zumeist farbige Abbildungen, kleinformatig und ganzseitig, lockern den Text auf. Es finden sich historische Fotos, Ansichtskarten, Zeitungsausschnitte, Werbeanzeigen, reproduzierte Urkunden und Bilder, Kartenausschnitte, neuere Farbaufnahmen und vor allem zahlreiche technische Zeichnungen vieler Art, für deren Präzision und auch faszinierenden künstlerischen (!) Charakter Rüdiger Hagen weithin bekannt ist.
Quellen
Im Bereich der Mühlenliteratur – besonders im lokal- oder regionalgeschichtlichen Bereich – fehlen dem Historiker häufig überpüfbare Nachweise getroffener Aussagen. In diesem Werk fehlen zwar auch detaillierte Nachweise in Form von Fußnoten, aber es gibt doch immerhin an wichtigen Stellen konkrete Verweise, z.B. bei den bildlichen Darstellungen. Aber es handelt sich ja auch nicht um ein rein historisches Fachbuch. Wäre es ein solches, dann hätte es seinen Umfang wahrscheinlich deutlich erweitert um den Preis verminderter Lesbarkeit.
Es gilt die Feststellung: Der riesige Fundus an ausgeschöpften Quellen lässt sich nur erahnen. Er reicht von den Karten der „Kurhannoverschen Landesaufnahme“ (ab 1760) und der „Preußischen Landesaufnahme“ (ab 1890) über die Erforschung der Sammlungen der verschiedenen erreichbaren Staatsarchive, Fachzeitschriften, Firmenkataloge, Lehrbücher aus dem Mühlenwesen, Privatsammlungen, Auswertung der Aussagen von Zeitzeugen, den persönlichen Archiven der Autoren usw.
Charakter des Buches und Adressatenkreis
Das Buch vereinigt verschiedene Merkmale in sich: Es ist ein Bildband über Mühlen, es ist das aktuelle Forschungsergebnis über die Mühlen in der Region und Stadt Hannover, es ist eine Technikgeschichte, es ist ein Reiseführer, es ist ein umfassendes Nachschlagewerk, es ist Anreger für eigene Forschungen, es ist ein Erinnerungsbuch, wenn man an den vom Abriss bedrohten speziellen Erdholländer in Abbensen denkt. Zusammenfassend: Es ist ein beeindruckendes regionales Standardwerk für die nächsten Jahrzehnte.
Das Buch legt ein Netz über die erforschte Region, dessen Knotenpunkte die Mühlen, die Mühlenbauindustrie und die Zulieferbetriebe bildeten oder noch bilden. Es trägt eine riesige Menge an Informationen zusammen, will und kann aber nicht vollständig sein! Ein Zeitungsartikel eine Woche nach Erscheinen des Buches verdeutlicht dieses („Das Wandern ist des Müllers Lust“ (Nordhannoversche Zeitung, 11.3.2015). Die Helsdorfer Bockwindmühle findet bei Hagen/Neß Erwähnung in nur 10 Zeilen, eine neue Broschüre stellt deren Geschichte an Hand von Akten des Staatsarchivs dar. Das weist jedoch nicht auf einen Mangel hin, sondern verstärkt den Knoten des Informationsnetzes und des Konzeptes.
Wünsche
Der Schwerpunkt dieses Buches liegt im technik- und teilweise im kulturgeschichtlichen Bereich. Der Aspekt „Kunst und Mühlen“ wird zwar gestreift, beschränkt sich aber doch nur auf einige Beispiele bildlicher Kunst. Das ist ein wichtiger Fingerzeig in diesem Buch, würde aber als einzufordernder Anspruch den Rahmen sprengen. man denke nur an Harro Segeberg (Hg), Technik in der Literatur, Ein Forschungsüberblick, Frankfurt/M 1987, oder Wilhelm Schott, In einem kühlen Grunde…, München o.J. Vielleicht findet sich einmal genügend Material für solch eine Untersuchung in der Region Hannover?
Wichtiger noch wäre eine Sozialgeschichte, die als Monographie die gesellschaftlichen Verhältnisse des Mühlenwesens, die soziale Lage der Müller, der Mühlknechte, der Mühlenarbeiter untersucht. Welche Mühlengesetze und Mühlenordnungen gab es im Bereich Hannover? Wie verlief der Weg von Organisationen der Mühlenarbeiter aus dem 19. Jh. ins 20. Jh., durch die Weimarer Republik, den Faschismus bis zur Eingliederung in die Gewerkschaft NGG? usw.
Fragen über Fragen, aber studieren wir doch zunächst einmal dieses fulminante Werk!
Rüdiger Hagen, Wolfgang Neß, Mühlen in Niedersachsen, Region und Stadt Hannover, in: Arbeitshefte der Denkmalpflege in Niedersachsen 44, (Hannover 2015); 49,95 €
Muss ich mir besorgen.