Lieschen Knatterstein Kinderbiografie von Karin LehmannTeil 4
Badetag bei Knattersteins und Lieschens erster Kuss
Am Sonnabend war immer Badetag bei Knattersteins. Unten im Keller war eine Waschküche. Dort stand ein großer, runder Waschkessel. Darunter befand sich ein Ofen, den man anfeuern musste um im Kessel, das mit einem Schlauch eingelassene Wasser, zu erwärmen. Das warme Wasser wurde dann, mit einem Schöpfgefäß, in eine große Holzwanne gegossen und darin wurde dann die Wäsche, auf einem Waschbrett, gewaschen. Im Waschkessel wurde die weiße Wäsche vorher gekocht. Aber am Sonnabend durften wir dort baden. Das war einfach unbeschreiblich schön. Meistens haben wir in der Holzwanne gesessen, aber manchmal durften wir gleich in den Waschkessel steigen. Natürlich nur wenn das Feuer schon aus war. Danach durften wir immer noch Fernsehen gucken und bekamen zwei Stückchen, von Muttis selbst gebackener Torte. Das lief jeden Sonnabend so ab. Papa musste den Fernseher vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer schleppen. Zur gleichen Zeit schnitt Mutti die Torte an und machte für jeden von uns einen Teller fertig, mit zwei Stückchen Torte. Dann saßen wir alle im Ehebett, aßen Torte und schauten fernsehen. Der Sonnabend war der schönste Tag der ganzen Woche.
Eines Tages merkten wir, beim Baden, das uns ein Nachbarjunge durch das kleine Kellerfenster beobachtete. Lieschen schmiedete einen Plan. Dieser Junge sollte merken dass man so etwas nicht tut und er würde es auch niemals vergessen dass er so etwas getan hat. Lieschen und Rieke würden es allein nicht schaffen, aber Micha konnte helfen. Lieschen wusste das Micha einen Wunsch hatte. Er wollte Lieschen einmal küssen. Das hatte er damals gesagt als sie im Handwagen Doktorspiele gemacht haben. Lieschen wollte mal bei Micha gucken und Micha bei Lieschen. Dann wussten beide Bescheid und waren zufrieden, bis auf das Küssen aber das traute sich Lieschen noch nicht. Lieschen fragte Micha ob er helfen würde den Nachbarjungen zu bestrafen und versprach ihm dafür den lang ersehnten Kuss. Micha sagte, na klar, für dich bin ich zu jeder Schandtat bereit. Dann zogen sie los und sammelten Hagebutten, einen kleinen Karton voll. Sie puhlten die Hagebutten vorsichtig aus und füllten alles in eine Papiertüte. Jetzt war Rieke dran. Wenn der Nachbarjunge auf dem Hof war, sollte sie ihn in den Hausflur locken. Dort standen Lieschen und Micha und warteten. Endlich war es soweit. Der Junge folgte Rieke in den Hausflur. Micha packte ihn und hielt ihn fest. Dann schüttete Lieschen die ganze Tüte Jucke Pulver in seinen Halsausschnitt. Er schrie und Lieschen sagte immer wieder, das ist fürs Spannen am Kellerfenster. Der Junge lief schreiend davon. Micha sagte, komm wir verdrücken uns lieber. Der Vater des Jungen beschwerte sich sofort bei Papa. Wir erzählten ihm warum wir das getan haben. Papa schimpfte nicht sehr aber er sagte das das nicht die feine englische Art von uns war. Am nächsten Badetag hängte Papa eine Decke vor das Fenster. Mutti schaute ihn fragend an und er sagte, ja unsere Kinder werden jetzt erwachsen.
A pro Po erwachsen. Lieschen musste noch den Kuss einlösen bei Micha. Micha sagte es muss was ganz besonderes werden. Als er einmal allein war sollte Lieschen in sein Zimmer kommen. Sie stellte sich vor ihm hin und wartete. Micha näherte sich ihr und dann biss er Lieschen zweimal kräftig in die Lippe. Lieschen drehte sich um und hielt ihre Hand vor den Mund, sie sagte ich muss jetzt gehen. Eilig lief sie aus der Wohnung. Küssen wird sie niemals wieder, das tut ja entsetzlich weh. Sollen die Großen das doch machen, ich nicht murmelte sie und wischte sich über ihre schmerzenden Lippen
Wie ein Gockel stolzierte Micha im Zimmer hin und her.
Papas flotter Hirsch
Eines Tages stand Papa auf dem Hof und putzte stolz sein Moped. Micha stand daneben und bewunderte den flotten Hirsch, wie Papa immer sagte. Lieschen half beim putzen. Weil sie vor Micha angeben wollte, löcherte sie ihren Papa, er könnte ihr doch zeigen wie man mit dem Moped fährt. Sie wollte auch immer beim putzen helfen, bettelte sie. Papa zeigte es ihr und drei Wochen später konnte sie Moped fahren. Voller Stolz kurvte sie über den großen Hof. Immer in der Hoffnung Micha könnte sie sehen und beneiden. Dann kam endlich der Tag als Micha mit seinen Indianern auf den Hof spielte. Jetzt ist der richtige Augenblick gekommen dachte Lieschen und holte hoch erhobenen Hauptes das Moped aus dem Stall. Papa war zwar nicht da, aber der Schlüssel steckt immer im Schloss. Micha bekam vor staunen seinen Mund gar nicht wieder zu. Als er sich etwas gefangen hatte, ging er zu Lieschen, reichte ihr eine Milchdrops und fragte, was hast du vor. Lässig antwortete Lieschen, na fahren, was denkst du denn was ich sonst mit unserem flotten Hirsch machen will. Micha nickte und bekam ganz runde Augen. Er ging zurück und lies sich mit dem Hosenboden auf den Abtreter fallen. Dort blieb er sitzen, den Kopf auf beide Hände gestützt. Lieschen setzte sich auf das Moped, lies es einige male aufheulen und fuhr, in Richtung Micha stolz lächelnd, los. Zwei Runden hatte sie schon gedreht. Die dritte Runde wollte sie etwas schwungvoller nehmen, doch da ratschte sie mit dem Lenker an der Mauer entlang. Der Lenker schlug herum und klatsch lag sie längelang auf dem Boden. Das Moped lag neben ihr. Lieschens Bein tat schrecklich weh und in ihrem Hals war die Milchdrops stecken geblieben. Sie jammerte und weinte etwas. Da stürzte Micha auf sie zu und zog sie hoch. Er klopfte sie ab und sagte etwas unsicher, soweit alles in Ordnung und schielte zum Moped. Lieschen wimmerte lauter. Ich bringe dich hoch sagte er. Mama und Papa waren nicht zu Hause, was nun. Lieschen weinte noch lauter. Da öffnete sich die Tür bei Frau Schimmelpfennig. Sie war immer zur Stelle. Schnell holte sie Lieschen in die Wohnung und legte sie aufs Sofa. Lieschen sagte das ein Bonbon in ihrem Hals stecken geblieben ist. Frau Schimmelpfennig holte etwas zu trinken, aber das half nicht. Sie schmierte ein dickes Leberwurstbrot und sagte schnell iss das. Das half und alle waren froh darüber. Dann schluchzte Lieschen auf und sagte mein Knie tut so weh. Um Gotteswillen da steckt ja ein Stein im Knie, rief Frau Schimmelpfennig. An der Wohnungstür klingelte es. Micha ging zur Tür und siehe da Mama kam ins Zimmer. Lieschen was ist passiert rief sie. Lieschen zeigte ihr Knie und weinte laut. Niemand durfte das Knie berühren. Mama sagte dann müssen wir dich ins Krankenhaus bringen. Das wollte Lieschen nicht. Frau Schimmelpfennig und Micha mussten Lieschen festhalten und Mama versuchte mit einer Pinzette den Stein zu entfernen. Das war ein Geschrei aber letztendlich wurde Alles gut. Lieschen bekam einen dicken Verband und wurde von Micha noch etwas
gepflegt. Papa reparierte das Moped. Es war nicht sehr kaputt, nur ein paar Kabel durchgescheuert. Er sagte, Lieschen ich bin froh das nicht mehr passiert ist und zwinkerte ihr zu.
Lieschen beim Zahnarzt
Heute war der schlimmste Tag für Lieschen. Sie musste mit Papa zum Zahnarzt. Die ganze Nacht hat sie schon wach gelegen und als sie doch etwas eingenickt war hatte sie immer wieder den gleichen Alptraum. Ein Riese kam auf sie zu und in der Hand hatte er eine große Zange, die vor ihren Augen drohend auf und zu klappte. Schweißgebadet wachte sie auf. Als sie am anderen Morgen losgehen wollten, rief Mutti noch hinterher. Es wird nicht so schlimm werden, der Zahn ist doch schon locker. Mama, du hast doch keine Ahnung, auf mich wartet ein Monster, dachte Lieschen. Sie gab Lieschen noch ein Taschentuch und schob sie aus der Tür. Lieschen fasste Papas Hand und lies sie nicht wieder los. Auch als Lieschen aufgerufen wurde. Jetzt saß das kleine Lieschen auf den großen Zahnarztstuhl und klammerte sich an Papas Hand. Ein dicker Zahnarzt, mit einem roten, runden Gesicht beugte sich über sie. Hilfe das Monster, dachte Lieschen und zitterte am ganzen Körper. Er lächelte süßlich und zeigte eine Reihe riesiger Zähne. Lieschen rutschte noch tiefer in den Stuhl. Na Lieschen zwitscherte er, nun mach mal schön dein Mund auf. Lieschen rührte sich nicht. Er setzte seine dunkle Brille auf und sagte, nun mein Kind wenn du deinen Mund nicht aufmachst kann ich dir nicht helfen. Lieschen dachte, ich bin doch nicht sein Kind, biss nur noch kräftiger auf die Zähne und kniff den Mund fest zusammen. Sie hatte große Angst und schaute verzweifelt zu ihren Papa, aber der schien ihr auch keine große Hilfe zu sein. Papa knetete Lieschens Hand, er hat sicher noch viel mehr Angst als ich, dachte Lieschen. Der Zahnarzt redete sich den Mund fusselig, es half nichts. Lieschen schien erstarrt zu sein. Jetzt sollte die Zahnarzthelferin Lieschen an der einen Seite festhalten und Papa an der anderen Seite. Der Zahnarzt versuchte Lieschen den Mund zu öffnen. Lieschen fing an zu weinen und strampelte mit den Beinen. Vor lauter Angst musste Lieschen aufs Klo. Sie schrie, ich muss mal, aber keiner schien ihr zu glauben. Die vielen großen Hände drückten sie tief in den Stuhl und es schien als wäre sie dort festgenagelt. Lieschen wehrte sich und jammerte immer wieder, ich muss mal. Ihr Kopf wurde puterrot und da geschah das unfassbare. Lieschen pullerte auf den Zahnarztstuhl. Papa rief loslassen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Alle sahen mit weit aufgerissenen Augen auf Lieschen. Es trippelte den Stuhl herunter, direkt auf die Schuhe der Zahnarzthelferin. Ii, schrie die Frau entsetzt. Jemand hob Lieschen aus dem Stuhl und schob sie durch eine Nebentür. Da stand sie nun in ihrem nassen Höschen. Schnell rannte sie zur Toilette. Das nützte zwar nichts mehr, aber hier war sie sicher und konnte nachdenken. Sie wusste noch gar nicht richtig was geschehen war, aber sie hatte immer noch entsetzliche Angst. Vor allem, jetzt nach Hause zu gehen. Papa war auch irgendwie verschwunden. Er hatte nicht mal nach ihr gesehen. Sicher wird er sich entsetzlich für Lieschen schämen. Trotzdem, Lieschen fand es nicht schön das Papa ihr nicht geholfen hat und jetzt nicht da war. Zwei Stunden saß sie noch auf dem Klo, dann machte sie sich langsam nach Hause. Sie öffnete die Wohnungstür. Es war totenstill. Mama und Papa saßen in der Küche und starrten sie an. Dan erhob Mama sich holte den Teppichklopfer und schon landete er auf Lieschens Hinterteil. Lieschen musste ins Bett und bekam eine Woche Hausarrest. Mama und Papa hatten sich am Abend noch lange unterhalten und auch ein bisschen gestritten. Sie kamen zu dem Schluss, das Lieschen wohl nur Angst vor dem Zahnarzt hatte. Denn der sah wirklich etwas gruselig aus. Sie beschlossen dass Papa mit Lieschen in den Nachbarort zum Zahnarzt gehen wird. Drei Tage danach fuhren sie mit dem Fahrrad zum Zahnarzt. Lieschen hatte nur ein kleines bisschen Angst. Der Zahnarzt war lieb und redete viel mit Lieschen. Er nahm sie in die Arme und ehe sie sich versah, gab er ihr eine Spritze. Sie war sehr tapfer, nur eine klitzekleine Träne kullerte aus ihrem Auge. Dann ging sie mit Papa noch etwas spazieren, bis die Spritze wirkte. Danach wurde der Zahn gezogen. Es tat gar nicht weh. Lieschen war stolz und versuchte ihren Papa anzulächeln, doch durch die Betäubung ging es nicht. Zuletzt bekam sie noch ein Bonbon vom Zahnarzt.
Karin Lehmann
Rita, vielen Dank. Es ist alles genau so geschehen.
Das war ein Teil meiner Kindheit.