Alpträume sind nicht steuerbar
Nun saßen wir frohgelaunt mit unserer erwachsenen Tochter Natascha im Zugabteil des ICE nach Hannover. Wir hatten mit 3 Personen einen separaten Zugabteil erobert, und dieser Sieg war in unseren Gesichtern sichtbar lesbar. Wir wollten für ein paar Tage die normannische Kälte mit der wohltuenden Wärme in Teneriffa vertauschen. Der Flieger wartete in Hannover nur auf uns, um uns in das Paradies zu entführen. Die Sonne schickte gekonnt verliebte Strahlen durch das Zugfenster und verlieh dem Bahnhof in Koblenz einen magischen Glanz. Menschen mit oder ohne Gepäck auf der Bühne des Bahnsteigs und schienen einem magischen Ziel zu folgen. Einige Gesichter strahlten voller Glück, andere wirkten versteinert in sich gekehrt. Die Atmosphäre ent- wickelte einen französischen Charme auf der Bühne des Lebens. Wir drei im Abteil waren auf der Suche des Positiven, und es offenbarte sich uns mit der geballten Kraft nicht eingedämmter Lebensenergie. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Wir verließen das Häusergewirr von Koblenz. Wie in einem Film flogen Landschaften in verträumten Farben an uns vorbei, als wollten sie uns zum Bleiben animieren. Nach einer dreiviertel Stunde erreichten wir den Hauptbahnhof in Bonn. Menschen verließen in hektischen Schritten den Zug, während andere von der Gefräßigkeit des Zuges förmlich aufgesaugt wurden. Wir hatten gerade ein kleines Frühstück, das wir geschickt in unseren Rucksäcken deponiert hatten, genossen, als wir mit Erstaunen bemerkten, dass der ICE sich seit 1o Minuten nicht von der Stelle bewegt hatte. Eine gespenstische Ruhe lag in der Luft, die dann plötzlich durch eine knarrende Durchsage des Bahnhof Lautsprecher unterbrochen wurde: „Liebe Fahrgäste, der ICE nach Hannover verlässt Bonn nicht wegen technischer Schwierigkeiten. Versuchen Sie das nächste Ziel Köln auf anderem Weg zu erreichen. Danke für ihr Verständnis!“ Ein tumultartiges Gedränge bevölkerte den Bahnsteig. Chaos lag in der Luft. Ein junger Mann, der uns mit vehementen Schritten überholen wollte, bemerkte unsere Verwirrung und rief uns aufmunternd zu: „Versuchen Sie mit einem Taxi die andere Rheinseite in Bonn Beul zu erreichen!“ Nun, das Ziel war genannt, die Strategie der Durchführung erschien noch nicht lösbar. Wie Kamele bepackt verließen wir das Bahnhofgebäude und mussten mit Erschrecken feststellen, dass eine aufgebrachte Menschenmenge mit brachialer Gewalt 4 zur Verfügung stehende Taxis erobern wollte. Die Chance, schnell einen Fahrer zu bekommen, war aussichtslos. Alle guten Erziehungsregeln missachtend, eilte ich auf die Mitte der Fahrbahn und stoppte in Wildwest Manier ein leeres Taxi, das sich auf dem Weg zum Sammelplatz befand. James Bond hätte bei diesem riskanten Manöver seine helle Freude gehabt. Der dunkelhäutige Fahrer hielt mit ärgerlichem Gesicht notgedrungen an. Er fuhr an den Seitenrand und schrie laut: „Was soll denn das? Sind sie verrückt geworden?“ „Bonn Beul“ war meine nervöse Antwort. Stumm zeigte ich dabei auf uns Drei mit dem umfangreichen Gepäck. Sein Gesicht wirkte versteinert und seinen Lippen entflohen die erschreckenden Worte. „ Sie brauchen wegen des großen Gepäcks ein Sammeltaxi, ich darf sie nicht befördern.“ „Wo ist ihre Heimat?“ entgegnete ich energisch und winkte verführerisch mit einem 10E Schein in seine Richtung. Diese Strategie war vom Erfolg gekrönt. Blitzschnell nahm er das Trinkgeld in seinen Besitz und stemmte 2Koffer in den Kofferraum und den dritten auf den Rücksitz. Nachdem auch die Rucksäcke verstaut waren, nahm ich auf dem Beifahrersitz Platz, während unsere Damen den einzigen und übrig gebliebenen Platz auf dem Rücksitz teilen mussten, den sie mit kobraähnlichen Bewegungen in Besitz nahmen. Die Fahrt dauerte 10 Minuten, und wir erreichten Bonn Beul auf der anderen Rheinseite. Der Fahrer war sichtbar erleichtert, seine Aufgabe ohne Polizei Präsenz gemeistert zu haben. Geschockt mussten wir aber anschließend feststellen, dass dieser kleine Provinzbahnhof von einer unüberschaubaren Menge an Menschen bevölkert war. Nur Harry Potter hätte die schnelle Umsiedelung dieser vielen Personen erklären können. Der einzige und kleine Lautsprecher, der über dem Bahngleis angeordnet war, übte sich in Wortlosigkeit, obwohl viele Blicke hilfesuchend auf ihn gerichtet waren. Er streikte einfach und genoss die Zuwendungen. Ein Regionalzug fuhr ein, ohne sein Ziel bekannt zu geben. Eine junge Dame mit einem Handy unlösbar verbunden, zupfte an meinem Ärmel. „Steigen sie erst in den nächsten ICE nach Hamburg ein. Er kommt in circa 5 Minuten.“ Sie wies auf ihr Handy, wie auf eine Bibel, wo die Wahrheit versteckt sein musste. Sie streichelte ihr Kleinod dann wie eine Geliebte, bevor sie wieder in ihre elektronische Welt eintauchte und das Geschehen um sie herum nicht mehr wahrnahm. Inzwischen hatten wir 1Stunde Zeit verloren. Die Pufferzone war aufgebraucht. Eine weitere Verzögerung konnten wir uns nicht mehr leisten. Glücklich und erleichtert bestiegen wir den anhaltenden ICE nach Hamburg, der auch Hannover anfahren sollte. Eine befreiende Leichtigkeit eroberte uns, als sich der Zug beschwerdefrei in Bewegung setzte. Wir hatten sogar das Gefühl, dass er durch Temposteigerung versuchte, die Verspätung auf zu holen. Unsere Augen senkten sich zu einem glücklichen Minutenschlaf. Fast hätten wir die Zugdurchsage überhört, dass wegen technischer Störung Dortmund nicht mehr planmäßig angefahren werden könne. Reisende nach Hamburg müssten mit einer voraussichtlichen Verspätung von 50 Minuten rechnen. Damit war das pünktliche Eintreffen auf dem Flughafen in Hannover nicht mehr möglich. Ich versuchte mit meinem Handy den Service Schalter am Flughafen zu erreichen. Funklöcher verhinderten jedoch das übermitteln meiner Nachrichten. Mit fast 2stündiger Verspätung erreichten wir den Hauptbahnhof in Hannover und fanden schnell den Taxistand. Nachdem man uns dort aufklärte, dass der Transfer zum Flughafen wegen des Gepäcks nur mit einem Großraum Taxi durchgeführt werden könne. Diese Reservierung müsst aber per e Mail vorher erfolgt sein. Wir mussten also mit der S Bahn vorlieb nehmen. Das Glück kehrte zurück. Wir saßen neben einer Dame, die im Flughafen arbeitete, heute aber ihren freien Tag hatte. Nachdem sie von unserem Dilemma erfahren hatte, zeichnete sie uns einen Wege Plan zum TUI Ein Scheck-Schalter. Besonders hilfreich schien die Erwähnung eines Aufzuges, der uns beschwerdefrei in die Abflughalle befördern sollte. Am Aufzug angekommen, wurden wir mit dem Schild „Wegen technischer Wartung heute außer Betrieb“ konfrontiert. Mit dem letzten Mut der Verzweiflung stemmten wir unser umfangreiches Gepäck in die 2. Etage. Wir waren sicher, die reguläre Ein Scheck Zeit war abgelaufen, der Flieger bereits gestartet, die Wichtigkeit unserer Persönlichkeiten hatte keiner berücksichtigt. Umso erstaunter bemerkten wir am Tui- Ein Scheck- Schalter noch eine Mitarbeiterin. Sie war scheinbar so erschrocken über unser desolates Aussehen, dass sie bestimmt überlegte, den Notarzt zu rufen. Als wir aber die ersten Worte heraus stammelten, beruhigte sie uns mit den Worten, in der Hoffnung, unseren Adrenalin Spiegel dabei zu senken.“ Sie haben noch Zeit, der Flieger hat eineinhalb Stunden Verspätung.“ Die anschließende Befreiung von unseren Koffern betrachteten wir als Erlösung unserer geschundenen Knochen. Ruhe breitete sich aus. Von nun an lief alles scheinbar problemlos. Wir saßen inzwischen im Flugzeug und warteten auf die Starterlaubnis. Neben mir saß eine freundliche alte Dame, die aufmerksam meine Schilderungen der Pannen mit anhörte. Nach Freigabe startete das Flugzeug mit Vehemenz, dann wurde der Startvorgang abrupt durch plötzliches Bremsen abgebrochen. Unsere Hände verkrampften sich am Vordersitz. Die Funktion des Sicherheitsgurtes wurde spürbar. Aus den Bordlautsprechern ertönte die beruhigende Stimme des Kapitäns: Wir mussten den Start unterbrechen, da technische Probleme mit dem Türverriegelung auftraten. Wir bitten alle Passagiere das Flugzeug zu verlassen. Es muss erneut betankt werden und unsere Techniker werden in der Zwischenzeit die defekte Tür reparieren. Wir sind sicher, dass schon nach kurzer Zeit alle Probleme gelöst sind, und wir endgültig starten können. Davon werden sie in Kenntnis gesetzt. Bitte entschuldigen sie unsere Maßnahmen! “Ein schlechtes Omen hing in der Luft und viele verließen mit gesenktem Kopf das Flugzeug. Ein ängstliches Gemurmel untermalte die gespenstische Atmosphäre. Nach einer halben Stunde wurden wir erneut zum „on Boarding“ aufgerufen. Die Crew begrüßte uns mit einem zauberhaften Lächeln, als wäre nichts gewesen. Alle nahmen geräuschlos Platz. Manche Paare warfen sich aufbauende Blicke zu, um die tief verwurzelte Ängstlichkeit zu vertreiben. Nur das Gesicht meiner älteren Nachbarin wirkte versteinert, als sie mich mit fester Stimme ansprach: „Sie verstehen, dass ich sie auffordern muss, das Flugzeug zu verlassen! Wer weiß, was noch passieren muss.“ Nachdem ich ihrer Aufforderung nicht nachkam, ließ sie sich durch die Stewardess einen anderen Sitzplatz zuweisen. Der Flug war angenehm und wir landeten mit einer 3- stündigen Verspätung in Teneriffa. Sonne und Wärme umfing uns. Nun saßen wir erleichtert im Bus, der uns in das gebuchte Suite Hotel bringen sollte. Wir hatten eine Wohnung zum Wohlfühlen- da waren wir uns sicher. Im Wohnzimmer war ein Metallbett für unsere erwachsene Tochter aufgebaut. Nach einem üppigen Abendbüffet, wollten wir schnell unsere Nachtruhe genießen. Ein dumpfer Schlag und das Geräusch von zerborstenem Metall ließ uns erschrocken aus dem Bett springen und in das Wohnzimmer eilen. Eine lachende Tochter strahlte uns aus dem auseinander gebrochenen Metallbett an. Die Teile waren wild im Raum verteilt. Das „Schlachtfeld“ wurde vom Hotel- Service professionell entrümpelt und geordnet. Der Mond lächelte verschmitzt in unsere Wohnung und ließ uns gütig den verdienten Schlaf genießen. Ein wunderschöner Urlaub ohne Pannen begann, der in unserem Bauch die Schmetterlinge wach küsste. Aber das ist eine andere Geschichte.
Copyright: Werner Jung in Bad Ems- Buchprojekt-
Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors
Hallo, liebe Gabriele,
herzlichen Dank für Deinen wunderschönen Kommentar. Es war wahrlich eine Aneinanderreihung von unglücklichen Zufällen. Der Urlaub, der schon einige Jahre zurückliegt, war danach sehr erholsam. Die Rückreise entwickelte sich ohne Einschränkungen als problemlos.
Danke auch für das "schmunzeln"!
Werner auf der Fährte von M. Claudius