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Am Horizont

Mitten in der Nacht hatte sich Ole mit seinem betagten Schiff, der Lady BIue, hinaus auf das Meer gewagt. Es sollte seine Abschiedstour werden. Sowohl sein Kutter, wie auch er selbst, hatten schon längst das Rentenalter überschritten. Er war ein griesgrämiger Fischer der alten Sorte, der sein Handwerk noch von der Pike auf gelernt hatte. Der dem neumodischen Schnickschnack, wie Echolot oder Funkgerät schon vor Jahren den Kampf angesagt hatte.
„Ein richtiger Seemann braucht diesen Unsinn nicht. Entweder man hat es, oder man hat es eben nicht“, pflegte er immer zu sagen.
„Mach dir man keine Sorgen, mien Deern. Einen alten Seebären wie mich wirft nichts um, auch dieser letzte Törn nicht“, sagte er bestimmt zu seiner Frau Astrid. Er drehte sich um und verschwand an Bord der Lady Blue. Astrid löste die Leinen des Bootes und der Kutter legte ab. Astrids Blicke folgten ihm und wie einer leiser werdenden Melodie lauschte sie dem Tuckern des Schiffsmotors, das sich in der Ferne verlor. Noch einmal winkte sie Ole zu. Das Unbehagen des Abschiedes lag Astrid spürbar auf dem Herzen. Sie verharrte am Kai des kleinen Fischerhafens bis die Positionslichter des Kutters am Horizont im Dunst über dem Meer verschwanden. Mit Tränen in den Augen verließ sie die Mole. Zwei Nächte sollte sie nun ohne Ole verbringen.
In dieser Nacht fand sie keinen erholsamen Schlaf. Ein Alptraum peinigte sie. Riesige rote Buchstaben tanzten in ihrem Traum umher. Astrid versuchte, sie beiseite zu schieben doch dann wurden aus den Buchstaben ganze Wörter, aus denen sich Sätze bildeten. Es war der Text einer Unwetterwarnung, der ein Sturmtief ankündigte, das mit ungeheurer Macht auf die Küste zu rase. Verschreckt davon sprang sie in ihrem Traum von dem Tisch auf, an dem sie saß, wobei sie eine Tasse Kaffee umkippte. Der Sud wälzte sich gemächlich in einer größeren Welle zur Tischkante, von der er auf den Dielenboden zu tropfen drohte.
„Ole!“, schrie sie verzweifelt, denn sie meinte, das Boot ihres Mannes in der braunen Brühe zu erkennen, das gegen den Orkan ankämpfte. Schnell beugte sie sich nach unten und formte ihre Hände unter der Tischkante zu einer Schale, um den Kutter vor dem sicheren Absturz zu retten. Völlig verängstigt von diesen schrecklichen Bildern erwachte Astrid schreiend aus dem Alptraum.
„Aaahh, Ole! Ich fange dich auf!“, hörte sie sich rufen. Verwirrt wanderten ihre Blicke hastig durch das Schlafzimmer. Die Lichtbalken der Morgensonne, die durch die Spalten ihrer Jalousie eindrangen, boten ihr in diesem Moment Schattenspiele, die sie zunächst nicht einzuordnen wusste. So dauerte es eine Weile, bis sie sich gefangen hatte und in die Realität zurück fand.
„Ach, Astrid! Das war doch nur ein Traum“, versuchte sie, sich selber zu beruhigen.
Kurze Zeit später, als sie in der Küche ihr Frühstück einnahm, wankte jedoch ihre Hoffnung. Der Aufmacher in der Tageszeitung berichtete von einem schweren Sturmtief, das seinen Weg zur Küste eingeschlagen hatte. Sofort tanzten alle Bilder ihres nächtlichen Angsttraumes wieder vor ihren Augen umher. Fassungslos las sie Zeile für Zeile. War dieser Traum eine böse Vorahnung, fragte sie sich. Den ganzen Tag über ließ sie dieser Gedanke nicht mehr los. Sie stand öfters auf der Terrasse und beobachtete ängstlich den Himmel. Freilich hatte Astrid schon so manchen Sturm erlebt, während Ole sich auf hoher See befand, doch noch nie hatte sie währenddessen von seinem Tod geträumt. Die ersten Vorboten des Orkans trafen am Abend ein. Der Wind briste böig auf. Das dabei entstehende flatternde Geräusch ihres Buschwerks im Garten verstärkten Astrids Kummer.
Das beklemmende Gefühl begleitete sie auch, als sie sich zu später Stunde schlafen legte. Sie wünschte sich, nicht nochmals solche Träume zu haben. Doch erneut durchlebte sie Zerrbilder des Grauens, die ihren Schlaf unruhig werden ließen. Sie träumte von einem Abschiedsgedicht, das sie für Ole schrieb.
Doch kaum, dass sie den letzten Vers geschrieben hatte, fand sie sich schwebend über dem in der sturmgepeitschten See versinkenden Kutter. Von Ole erkannte sie nur noch dessen Hand, die ihr, emporgereckt aus den tosenden Wellen zuwinkte. Das Szenario erschreckte Astrid dermaßen, dass sie schweißgebadet aufwachte. Eiligst sprang sie aus dem Bett und warf sich ihren Morgenmantel über.
„Ole! Bevor ich es vergesse, muss ich das Gedicht aufschreiben‘, sagte Astrid, während sie die Treppe hinab hastete. Rasch nahm sie Blatt und Bleistift zur Hand und schrieb die Verse aus ihrem Traum nieder.

Am Horizont

Das Meer lag im Mondschein still und sacht,
als dein Schiff dich entführte in dieser Nacht.
Hinaus aus dem Hafen, hinweg von mir,
ich sah dich winken und fing einen Blick von dir.
Tage vergingen, an denen nichts geschah,
bis die Kraft der Natur mir kam ganz nah.
Machtvoll langte ihr Atem nach mir,
am Horizont sah ich einen Blick von dir.
Aus weiter Ferne hörte ich dich rufen,
meine Ängste wohl dein Bild in mir schufen.
Noch einmal spürte ich deine Nähe zu mir,
am Horizont sah ich den letzten Blick von dir.
Die Wogen des Meeres haben dich gefangen,
in weiter Ferne bist du von mir gegangen.
Mein Schmerz erglüht im Herzen mir,
am Horizont ist nun kein Blick mehr von dir.

Nachdem Astrid das Gedicht zu Ende geschrieben hatte, warf sie einen nachdenklichen Blick aus dem Küchenfenster. Der angekündigte Orkan war da. Die Bäume und Büsche in ihrem Garten schwankten im Wind und Regen prasselte, von den Böen angetrieben, gegen das Fenster.
„Ole, du alter Sturkopf! Warum musstest du ausgerechnet jetzt im Herbst diese letzte Fahrt antreten?“, haderte sie mit der Entscheidung ihres geliebten Gatten. Danach versank sie immer mehr in ihren Gedanken, aus denen ein Tagtraum erwuchs. Astrid beobachtete sich, wie sie im Hafen, am Liegeplatz der Lady Blue, eine kleine hölzerne Schatulle aus dem aufgewühlten Wasser holte und öffnete. Ein beige meliertes Blatt Papier lag darin, worauf ein Gedicht geschrieben stand.

Am Horizont

Das Meer lag im Mondschein still und sacht,
als mein Schiff hinausfuhr, in dieser Nacht.
Hinaus aus dem Hafen, hinweg von dir,
noch immer spürte ich deine Wärme in mir.
Der Fischraum war voll, als es geschah,
die Kraft der See kam dem Kutter zu nah.
Kalt und nass griffen die Wogen nach mir,
ich sehnte mich so nach der Wärme von dir.
Durch sturmgepeitschte See hörte ich dich rufen,
letzte Gedanken wohl dein Bild in mir schufen.
Noch einmal spürte ich deine Nähe zu mir,
fühlte ein letztes Mal die Wärme von dir.
Die Wogen des Meeres nahmen mich gefangen,
ich konnt‘ nicht zurück und bin von dir gegangen.
Ein letzter Schmerz erglühte im Herzen mir,
niemals mehr spüre ich die Wärme von dir.

In Liebe, für immer dein Ole.

Astrid saß wie erstarrt. Hatte Ole tatsächlich diesen letzten Gruß für sie geschrieben? Oder waren es ihre eigenen Gedanken, die ihr einen Streich spielten? Die Ähnlichkeit der Zeilen und Verse mit ihrem eigenen geträumten Gedicht war frappierend. In dem Augenblick knarrte die Haustür. Das Geräusch riss sie abrupt aus ihrem Tagtraum und ließ sie aufblicken.
„Ole! Du bist nicht tot?‘, schrie sie überschäumend vor Glück, und der Fischer schaute sie erstaunt an. Dann lachte er sein heiteres, knurriges Lachen, das sie so liebte.
„So ein kleines Stürmchen erschüttert doch einen alten Seemann nicht“, sagte Ole bärbeißig und hielt Astrid eine kleine, hölzerne Schatulle entgegen. Noch immer berauscht vor Glück, öffnete Astrid das Kästchen mit zitternden Händen. Nach Worten ringend starrte sie auf den Inhalt, den sie schon kannte und sie griff nach dem Papier, auf dem sie ihr Gedicht aufgeschrieben hatte. Ole las es und schaute sie dann mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an. Seine Stimme war rau als er ihr antwortete.
„Ich war mir nicht sicher, ob ich es schaffen würde. Es war schon härter als sonst. Der Laderaum quoll fast über von dem Fang und es kam immer mehr Wasser über Deck. Da fielen mir diese Zeilen ein und ich schrieb sie auf. Wäre der olle Kahn gesunken, hätte vielleicht jemand das Kästchen gefunden und dir gebracht. Aber nun ist es vorbei, ich bleibe bei dir und fahre nie wieder hinaus.“
Es ist manchmal ungewöhnlich, was wahre Liebe vermag. Selbst über die größten Entfernungen gibt sie uns noch Einblick in die Herzen derer, die wir lieben und verbindet unsere Seelen miteinander.

© Martin Stumpf 2014

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