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8. Teil - Kinder- und Jugendjahre im Schatten des Nationalsozialismus. (Erinnerungen der 89-jährigen Zeitzeugin Maria Bengtsson Stier)

  • Erinnerungen der 89-jährigen Zeitzeugin Maria Bengtsson Stier
  • hochgeladen von Gisela Görgens

….Noch heute bekomme ich ein unbehagliches Gefühl wenn ich eine Sammelbüchse sehe.

Einmal hatten wir mit der ganzen Schulklasse eine gemeinsame Sammelaktion. Da schwärmten alle Schulkinder aus wie die Wespen und rempelten vorbeigehende Menschen an und baten um eine Gabe. Ich hatte meinen Standplatz am Bahnhof. Plötzlich kam ein Zug an. Aber viele Fahrgäste stiegen nicht aus. Doch ein Herr fiel mir ganz besonders auf. Er war groß und schlank, hatte dunkles Haar, ein gut geschnittenes Profil und war sehr gut gekleidet. In meinen Augen sah er sehr wohlhabend aus. Oh, dachte ich, hier kann ich eine gute Spende ernten. Denn unsere Sammelbüchsen wurden in der Schule geleert und nachgerechnet. Je mehr man gesammelt hatte, desto besser war man angesehen.

Ich ging also auf den Herrn zu, stellte mich dicht vor ihn, so dass er stehen bleiben musste, schaute zu ihm auf und rasselte ausgiebig mit meiner Sammelbüchse. Dann sagte ich:“ Wir sammeln für das WHW.“ Das WHW war das Winterhilfswerk. Der Herr schaute mich eine Weile mit seinen dunklen Augen freundlich, aber sehr nachdenklich an, sagte jedoch kein Wort. Er machte auch keine Anstalten, die Geldbörse zu „zücken“. Aber plötzlich legte er mir seine Hand auf meinen Lockenkopf.

„Ich bin Jude, mein Kind“, sagte er mit seiner wohlklingenden, warmen Stimme, dann ging er weiter ohne etwas zu spenden. Verblüfft starrte ich ihm nach.

Nein, ich konnte es nicht glauben. In allen Zeitungen und überhaupt überall wenn von Juden die Rede war, wurde eine hässliche Karikaturzeichnung gezeigt, die Juden darstellen sollten. Dieses Bild hatte sich bei uns Kindern eingeprägt. Ich hatte mich im Laufe der Zeit viel mit diesen Bildern und Beschreibungen beschäftigt., hatte sie mit unseren jüdischen Nachbarn und den vielen jüdischen Kunden meines Vaters verglichen, fand jedoch bei all diesen Personen gar nichts was mit den grotesken Bildern übereinstimmte. Irgendetwas stimmte nicht an diesen Zeitungsinformationen. Das sah ich ja mit eigenen Augen. Also suchte ich nach einer Lösung, um mit diesen Widersprüchen fertig zu werden. Hinzu kam ja noch die kindliche Annahme: Zeitungen lügen nicht.

Nun – ich fand wirklich einen naiven, kindlichen Weg. Ich sagte mir: „Meinetwegen sind fremde Juden eben Juden die vielleicht so aussehen wie diese Bilder, aber unsere netten Nachbarn und die Kunden meines Vaters gehören eben nicht dazu, denn sie passen ganz einfach nicht zu den Bildern die uns aus allen Nazi-Zeitungen entgegen leuchten“.

Ich schob also das Problem weit weg von mir und somit war meine kleine Welt wieder in Ordnung. Für eine Weile jedenfalls, denn diese Begegnung am Bahnhof hatte meine eigene, „hausgemachte“ Lösung des Problems vollkommen über den Haufen geworfen.

Dieser gutaussehende fremde Herr war ja ein Jude, das hatte er mir selbst gesagt, grübelte ich nun. Und wenn das so ist, dann stimmte ja auch meine eigene Patentlösung nicht. Wieder türmte sich ein verwirrendes Problem vor mir auf, für das ich keine Lösung fand.

Ich ging nach Hause und erzählte meinen Eltern von der Begegnung am Bahnhof. Aber ja, meine Eltern kannten diesen Herrn. Es war Herr Wolf, der Sohn eines Alzeyer Geschäftsmannes, der hin und wieder nach Alzey kam, um seine Eltern zu besuchen.

Nach diesem Erlebnis begann ich vieles anzuzweifeln, womit uns die Zeitungen bombardierten. Aber leicht, nein, leicht war es bei Gott nicht unter einer totalitären Regierung und dem Druck einer solch gigantischen Lügenpropaganda aufzuwachsen, zumal meine Eltern die nationalsozialistischen Ideen ablehnten auch wenn sie es nur im „stillen Kämmerlein“ taten. Wir Kinder spürten diese Ablehnung, obwohl nicht darüber gesprochen wurde. Welches Verhalten war jetzt das richtige, die Ablehnung oder die Bejahung der neuen Ideen?

Derjenige, der es nicht selbst miterlebt hat, kann es wohl kaum nachempfinden wie einem Kind zeitweise zu Mute war. Es war gelinde gesagt sehr verwirrend und zuweilen auch beängstigend…..

Fortsetzung folgt….http://www.myheimat.de/linz-am-rhein/gedanken/9-te...

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1 Kommentar

Das geht mir auch so, Elisabeth.

"….Noch heute bekomme ich ein unbehagliches Gefühl wenn ich eine Sammelbüchse sehe."
Das habe ich irgendwo schonmal gehört - aber jetzt weiß ich auch, woher das kommt.

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